Neurobiologin Dr. Angela Kurylas-Schneider im Interview

Mit dem Gehirn das Denken lenken

9. Oktober 2024

Mit dem Gehirn kann man das Denken lenken

©Pexels, Ekaterina Bolovtsova

Wie funktioniert eigentlich unser Gehirn? Wir nutzen es ununterbrochen, aber nur selten, um uns eben diese Frage zu stellen. Die Folge: Das Wissen darüber, wie Wissen entsteht, ist begrenzt. Für Dr. Angela Kurylas-Schneider gilt das nicht. Die Neurobiologin hat sich nach einer Karriere in der Wissenschaft als Businesscoach und Beraterin selbstständig gemacht. Ihr Ziel ist, mehr Verständnis für das unbekannte Organ zu wecken.


Frau Dr. Kurylas-Schneider, lässt sich in einfachen Worten beschreiben, wie ein Gehirn funktioniert?

Das Gehirn besteht aus hundert Milliarden Nervenzellen, die über zu- und wegführende Nervenbahnen miteinander kommunizieren. Dabei kommen Botenstoffe (Hormone) zum Einsatz, die den Körper zu passenden Reaktionen bewegen. Begegnen wir beispielsweise im Wald einem Wolf, wird Adrenalin ausgeschüttet und versetzt uns in einen Alarmzustand. Beobachten wir dagegen einen schönen Sonnenaufgang, sorgt das Hormon Serotonin für Entspannung.

All diese Nervenzellen befinden sich in verschiedenen Hirnarealen. Eine wichtige Rolle spielt das „limbische System“, das auch „emotionales Gehirn“ genannt wird. Dazu gehören u.a. die Amygdala als Gefühls- und Reaktionszentrum und der Hippocampus als Arbeitsspeicher unseres Gehirns. Das limbische System arbeitet eng zusammen mit dem „präfrontalen Cortex“. Das ist unser Vernunftzentrum, das uns beim Lösen komplexer Aufgaben hilft, wie dem Lernen aus Erfahrungen oder dem Planen für die Zukunft. Bei intensiven Erfahrungen sind all diese Bereiche beteiligt, um von einer instinktiven zu einer intuitiven oder bewussten, rationalen Reaktion zu kommen.

©Pexels, Arina Krasnikova

Schlechte Nachrichten gehören zum Leben. Trotzdem fühlen sich viele Menschen überfordert, wenn sie ein Schicksalsschlag trifft. Warum?

In solchen Momenten wird durch die Amygdala das Alarmsystem aktiviert. Wir reagieren mit Reflexen, Instinkten und eingefahrenen Mustern, die sich z.B. in der Kindheit bewährt haben. Das komplexe Denken wird blockiert. Was in unserem Kopf passiert, fühlt sich zwar weiterhin wie Denken an, aber wir treffen in diesem Stressmodus deutlich schlechtere Entscheidungen, weil die Wahrnehmung extrem fokussiert und die komplexe Verarbeitung eingeschränkt ist. Schließlich sendet die Amygdala das Signal: Es geht ums Überleben!

 

„In Stressmomenten wird das komplexe Denken blockiert – wir treffen schlechtere Entscheidungen.“

 

Deswegen ist es so wichtig zu wissen, welche Abläufe in unserem Gehirn passieren. Nur so können wir einschätzen, wann wir im Stress- und wann wir im angemesseneren, lösungsorientierten Denkmodus sind. Das Ziel muss also sein, den Stressmodus zu verlassen und über unsere Sinne und einen gesunden Umgang mit unseren Gefühlen zum komplexen – oder: kortikalen – Denken zu gelangen. Dort können wir Vergangenheit und Zukunft mit einbeziehen, in die Metaebene bzw. Außenperspektive gehen und rationale Entscheidungen treffen. Dort liegen die guten Lösungen. Deshalb ist das ganz entscheidend.

Was kann man als Betroffener dafür tun?

Das hängt auch davon ab, was für ein „Stress-Typ“ man ist. Es gibt grundsätzlich drei evolutionsbiologisch tief verankerte Handlungsimpulse in stressbesetzten Momenten: Kämpfen, Flüchten oder Totstellen. Als Betroffener wäre es klug, anstatt archaisch-impulsiv zu agieren, möglichst durchdacht mit der Situation umzugehen. Um aus dem Stress- in den Denkmodus zu kommen, müssen wir den instinktiven Handlungsimpuls zunächst wahrnehmen, dann akzeptieren und schließlich regulieren. Hierbei könnte helfen, erst einmal tief durchzuatmen, um wieder zur Ruhe zu kommen.

Je nach Situation, Möglichkeit und momentaner Verfassung könnnte auch eine körperliche Aktivität wie Joggen das Richtige sein. Mit jedem Atemzug, mit jedem Meter nimmt das Adrenalin ab, an seine Stelle treten Serotonin oder Dopamin. Würde man dagegen am liebsten verschwinden, kann man sich auch mal auf das Sofa verkriechen und die Decke über den Kopf ziehen – bei dieser Art von Zuwendung bewirkt man eine tröstende Oxytocin-Dusche. Wichtig ist, dass man sich selbst kennt und das tut, was einem wann und wie hilft. Denn wir wollen die akute Stressphase überstehen, um dann ins „eigentliche“ Denken zu kommen.

Die 5 besten Tipps, um das Gehirn klug zu nutzen
von Expertin Dr. Angela Kurylas-Schneider

  1. Gönnen Sie sich Ruhe: Legen Sie kleine und große Ruhepausen ein, wann immer es geht. Denn: Nur in Phasen der Entspannung aktivieren wir z.B. unser „Default Mode Network“, ein Netzwerk verschiedener Hirnregionen,  mit dessen Hilfe wir introspektiv und lösungsorientiert denken können. Pausen machen uns kreativ, und Kreavität generiert gute Lösungen.
  2. Eignen Sie sich Wissen an: Beschäftigen Sie sich mit Ihrem Gehirn und seinen Funktionsweisen. Wer versteht, was sich im Kopf abspielt in Momenten der Anspannung, kann sie schneller überwinden. Auch für den Alltag schadet es nicht zu wissen, wie man sein Gehirn nutzen kann.
  3. Lernen Sie sich kennen: Beobachten Sie Ihr eigenes Verhalten in Stresssituationen. Merken Sie sich, was Ihnen dann hilft und gut tut. Finden Sie das richtige Mindset. Je besser man sich selbst versteht, desto besser ist man für Krisen gewappnet.
  4. Werfen Sie Anker aus: Der Mensch ist ein soziales Wesen, der gegenseitige Austausch spielt eine wichtige Rolle für unser Wohlbefinden. Auch wenn man gern allein sein mag: Werfen Sie Anker aus und bilden Sie ein soziales Netz, das Halt geben kann.
  5. Essen Sie Cashews: Damit unser Gehirn optimal für uns arbeiten kann, braucht es bestimmte Stoffe. Für die Produktion des Entspannungshormons Serotonin benötigt unser Körper den Stoff Tryptophan. Der wurde in hoher Konzentration u.a. in Cashewnüssen nachgewiesen, die übrigens auch Basis für veganen Käse aus der Region sind. Mit Cashews tun Sie Ihrem Gehirn etwas Gutes – und genießen noch dabei.

Und im Gehirn selbst? Lässt sich da auch etwas beeinflussen?

Wir können unser Denken durchaus steuern, manchmal schon mit einfachsten Mitteln. Ein Beispiel: Befindet man sich im Stressmodus, dann sind die Muskeln angespannt, die Atmung ist flach. Wenn man nun aber bewusst tief ein- und ausatmet, dann sendet man ein reziprokes, also gegenteiliges Signal der Entspannung an das Gehirn. Das wiederum gibt dieses Signal zurück an den Körper, sodass ein sich selbst verstärkender Kreislauf entsteht – man beruhigt sich. Viele Spitzensportlerinnen und -sportler nutzen diesen Effekt. Wir können auch unser Mindset verändern, zum Beispiel indem wir Stress nicht etwa „aushalten“, sondern „staunend beobachten“. Durch die veränderte Formulierung ergibt sich eine positivere Wertung. Das kann für Entspannung sorgen.

Nehmen wir an, das hat funktioniert: Der akute Stress ist weg, aber die schlechte Nachricht bleibt – und mit ihr die negativen Gefühle.

Und damit sind wir schon beim nächsten Schritt. Haben wir die akute Stressphase überstanden, können wir uns mit den Gefühlen beschäftigen. Sie sind die Sprache des Gehirns und dienen zur Orientierung, der Bewertung der Situation und der Bereitstellung von Handlungsimpulsen. Zunächst geht es darum zu erkennen: Was fühle ich? Es gibt fünf Grundgefühle, das sind Angst, Wut, Freude, Trauer und Scham. Jedes dieser Gefühle ist in einem gesunden Maße hilfreich und nützlich – und die Kunst ist, sie für sich zu nutzen.

 

„Gefühle sind die Sprache des Gehirns und dienen zur Orientierung,
der Bewertung der Situation und der Bereitstellung von Handlungsimpulsen.“

 

Die Frage ist natürlich: Wie? Nach einem Schicksalsschlag fühlt man sich oft wie betäubt. Um überhaupt erstmal „ins Fühlen zu kommen“, gibt es kleine Hilfestellungen. Möchte ich etwa aus einer Trauerphase heraus, kann es helfen, mich erst einmal zu fragen: Wo bin ich überhaupt? In einem Haus, auf einem Sofa oder wo genau? Was sehe ich? Was rieche ich? Ich aktiviere also meine Sinne. Diese Fragen haben nichts mit meinem Problem zu tun, aber sind für das Gehirn leicht zu beantworten. Sie aktivieren andere Gehirnareale und bewirken wiederum, dass ich den Fokus ändere. Allein das kann schon viel helfen! Man könnte sagen: Wir erschließen uns dadurch neue Denkmöglichkeiten und bewegen uns in Richtung des komplexen Denkens. So einfach es klingt: Genau darum geht es.

Wenn es so einfach ist: Warum gelingt es den einen besser und den anderen schlechter?

Das liegt zum einen an der Wahrnehmung der Situation. Diejenigen, die besser damit zurechtkommen, haben in der Regel eine höhere Akzeptanz. Sie akzeptieren früher, was geschehen ist und was das mit ihnen macht. Sie sind resilienter und stabiler. Deshalb können sie schneller zu ins Handeln kommen, sich wieder eine Perspektive verschaffen. Zum anderen liegt es aber auch an der Selbstkenntnis, also am Wissen über sich selbst und über das Gehirn. Je besser ich einordnen kann, welche Prozesse im Kopf ablaufen und welche Phasen ich gerade durchlaufe, und je besser ich weiß, wie ich veranlagt bin und was mir guttut, desto besser kann ich auch mit der Situation umgehen.

Manche haben darin im Laufe ihres Lebens schon Erfahrungen gesammelt. Dieses Wissen rufen sie intuitiv ab und können darauf vertrauen, denn sie haben gelernt, dass es für sie funktioniert. Aber die versöhnliche Botschaft lautet: Jeder kann es irgendwann aus solchen Situationen herausschaffen. Wirklich jeder. Wichtig ist natürlich, sich Unterstützung zu holen, wenn man das Gefühl hat, es nicht alleine zu schaffen.

©Pexels, Engin Akyurt

Der Schlüssel ist letztlich also Wissen. Glauben Sie, dass wir uns ausreichend mit unserem Gehirn beschäftigen?

Ich beobachte oft, dass das meistens noch gar nicht in der Form getan wird, wie es möglich und nützlich wäre. Dabei wird das immer wichtiger. Unser Gehirn funktioniert nutzungsabhängig. Es versucht ununterbrochen, Probleme für uns zu lösen; dafür ist es da. Auch unser Gedächtnis muss durch Nutzung und Training in Gang gehalten werden. Wenn wir das ständig auslagern, aufs Handy zum Beispiel oder an eine KI, dann verlieren wir auch die Fähigkeit, Dinge zu erinnern oder selbst zu denken.

Vor Kurzem habe ich gelesen, dass der Homo sapiens, als er noch als Jäger und Sammler durch die Gegend zog, sogar ein größeres Gehirn hatte als heute. Das heißt: Unser Gehirn schrumpft, je bequemer und komfortabler unser Leben wird. Wir sollten also dringend umsteuern. Zumal wir einen großen Anreiz haben: Wenn wir unser Wissen über das Gehirn gezielt einsetzen, dann kann es uns dahin bringen, wo wir hinwollen. Und das ist keine Magie, das ist angewandtes Wissen über das Gehirn.

 

HINWEIS:

Dies ist kein wissenschaftlicher Artikel. Komplexe Zusammenhänge werden zur besseren Verständlichkeit vereinfacht dargestellt.

Dr. Angela Kurylas-Schneider

wurde die gesunde Neugier bereits in die Wiege gelegt. Die Tochter eines Diplomaten und Entwicklungshelfers wurde als das vierte von sechs Geschwistern in San Fernando auf den Philippinen geboren. Den Kindergarten besuchte sie in Thailand, die Grundschule in Ägypten. Immer wieder hatte sie eine neue Welt zu entdecken und sich selbst darin einzuordnen.

Mit zwölf Jahren las sie ihren ersten Ratgeber zum Selbstmanagement. „Mich faszinierte der Gedanke, dass wir mit unserem Gehirn ein Organ besitzen, mit dem wir darüber nachdenken können, wie wir mit diesem Organ nachdenken.“ Diese Faszination sollte nicht mehr abebben. Kurylas-Schneider studierte Biologie mit Schwerpunkt Neurobiologie. Nach der Promotion an der Universität Marburg arbeitete sie sieben Jahre lang in der Hirnforschung, u.a. am Max-Planck-Institut für neurologische Forschung in Köln.

Jäh unterbrochen wurde die wissenschaftliche Karriere der heute 48-Jährigen durch einen Bandscheibenvorfall, dem ein Burnout folgen sollte. Ihr gelang es, diesen persönlichen Wendepunkt für eine berufliche Weichenstellung zu nutzen: Sie wechselte zunächst in die Pharmabranche, machte sich dann aber als Businesscoach selbstständig. „Schon im Studium wollte ich immer selbst Seminare geben“, erinnert sie sich zurück. Ihr sei es ein Bedürfnis, andere Menschen zu unterstützen, denn: „Oft braucht es nur etwas Wissen und Ermutigung, damit sie ihren Weg weitergehen können.“

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