So sein wie du:

Wie Vorbilder uns den Weg weisen

7. April 2025

©Felix Schlikis

Wenn wir im Leben Orientierung brauchen, können sie helfen: Vorbilder. Sie geben uns Inspiration, an welchem Wertekompass wir uns ausrichten und in welche Richtung wir uns entwickeln möchten. Sie wecken Wünsche und Sehnsüchte in uns, zeigen aber auch auf, wie sie in Erfüllung gehen. Was macht einen Menschen zum Vorbild und warum ist es oft gerade seine Unvollkommenheit, die anzieht?


So gut handwerken können wie der Opa, so visionär sein wie manches Tech-Genie oder so empathisch und unterstützend wie unsere Lehrerin damals in der Grundschule – jede und jeder von uns hat Vorbilder, wie unterschiedlich sie auch sein mögen. Mal bieten die Menschen im engsten Umfeld Orientierung, mal inspirieren Fremde aus der Ferne. Oder auch Comic-Figuren und Charaktere aus der Lieblingsserie, die es in echt gar nicht gibt.

 

Ohne Vorbilder geht’s kaum

Fakt ist: Als soziale Wesen existieren wir nicht in einem Vakuum, sondern vergleichen uns mit unseren Mitmenschen, um Orientierung zu finden und uns gesellschaftlich „einzuordnen“. Das Verhalten anderer hat einen ganz erheblichen Einfluss auf unser eigenes – das beweist zum Beispiel die Studien-Reihe von Michelle van Dellen zum Thema Selbstkontrolle. In einer Untersuchung, dem Karotte-Keks-Experiment, beobachteten 71 Freiwillige andere Personen, die jeweils die Wahl zwischen den beiden Lebensmitteln hatten. Obwohl keinerlei Interaktion zwischen beiden Personengruppen stattfand, beeinflusste die Entscheidung der Verkoster für das gesündere Lebensmittel auch die Gruppe der Beobachter positiv.1

 

9 von 10  Jugendlichen haben mindestens ein Vorbild. 2

 

Wenn wir uns Menschen zum Vorbild nehmen, motivieren sie uns durch ihre Fähigkeiten und Handlungen zu einem bestimmten Verhalten. Sigmund Freud, auf den viele Theorien über Vorbilder heute zurückgehen, beschrieb das so: Die Identifikation mit einem Vorbild ist ein psychodynamischer Prozess, in dem sich das eigene Ich an das zum Vorbild genommene Ich angleicht. Das passiert vor allem durch Nachahmung. Insbesondere in Zeiten von Krisen und Unsicherheit können Identifikationsfiguren wie ein Anker wirken und uns zeigen, für welche Werte wir stehen und wohin wir uns entwickeln wollen – und uns schließlich über uns hinauswachsen lassen. Ganz nach dem Motto: Was würde diese Person jetzt an meiner Stelle tun?

©Felix Schlikis

HANDBALLTORHÜTERIN MADITA KOHORST
Vorbild ohne Vorbild

Dem großen Idol nacheifern: Was selbst bei den Kleinsten oft schon selbstverständlich ist, kam für Madita Kohorst nie infrage. „Ich habe mir überall etwas abgeguckt – bei Julia Renner oder Clara Woltering – und wie ein Puzzle zusammengesetzt. Ein großes Vorbild hatte ich aber nie“, bekennt die Stammtorhüterin des VfL Oldenburg. Sie verzichtete also auf jenen Orientierungspunkt, der anderen so wichtig ist. Ein Nachteil? Nein, denn ihr Weg führte vom TV Dinklage bis zu Borussia Dortmund und damit in die EHF Champions League. Mittlerweile ist die 28-Jährige zurück in der Heimat und selbst ein Vorbild für den Nachwuchs. Ein komisches Gefühl stellt sich bei ihr aber nicht ein. „Ich übernehme diese Rolle gern“, betont die Referendarin. Die Kleinen eifern nun also dem Idol Madita Kohorst nach. Ihre wichtigste Vorbildfunktion dabei: ganz sie selbst zu bleiben.

→ Was Madita Kohorst stets auf ihrem Weg geleitet hat, erzählt sie hier.

Von Kindesbeinen an

Besonders stark prägen Vorbilder in der Kindheit. In der Sozialforschung spricht man von „Modellen“, die Kindern zeigen, wie das Leben funktioniert. Das sind in erster Linie die Eltern, aber auch andere nahestehende Personen wie Erzieher oder Lehrerinnen. Sie machen vor, die Kleinen eifern nach. Ganz automatisch, ganz unbewusst und unreflektiert. Mehr noch: Sie sind soziale Interaktionspartnerinnen und -partner, die die Persönlichkeit des Kindes widerspiegeln und ihm zeigen, wer es ist und wie andere es sehen.

Noch mehr als das, was die Vorbilder bewusst durch Erklärungen und Ermahnungen vermitteln wollen, prägt ihre indirekte Erziehung, also ihr Handeln. Prof. Dr. Margit Stein, Professorin am Lehrstuhl Allgemeine Pädagogik an der Universität Vechta, bringt es auf den Punkt: „Taten zählen mehr als Worte. Wenn die Eltern Ehrlichkeit predigen, aber sich zum Beispiel bei der Fahrscheinkontrolle einen Rabatt ermogeln wollen, der ihnen gar nicht zusteht, bleibt das beim Kind hängen.“

Dass sich Kinder auch später noch bei diversen Lebensthemen wie der Studien- oder Berufswahl an den Eltern orientieren, ist mittlerweile belegt.3 „Selbst wenn andere Quellen wie Berufsberaterinnen und Berufsberater eigentlich kompetenter wären“, ergänzt Stein.


Anziehend: Disziplin, Talent und Haltung

In der Pubertät werden die ersten Vorbilder, die Eltern, auf den Prüfstand gestellt. Während wir uns von ihnen abgrenzen und die eigene Identität suchen, brauchen wir neue Orientierung und damit neue Vorbilder. In dieser Phase ist die Anfälligkeit für „falsche Ideale“ besonders groß; also Identifikationsfiguren, die eigentlich nicht guttun und im Zweifel sogar zu ungesundem Verhalten wie Drogenkonsum oder Essstörungen verleiten. Gerade Social-Media-Kanäle, auf denen Jugendlichen ihren Vorbildern besonders nah sind, bieten hier Potenzial für schlechten Einfluss – und der wird oft erst später bemerkt.

Wie wichtig Vorbilder im Jugendalter sind, belegt die Sinus-Jugendstudie 2024 „Wie ticken Jugendliche?“. Darin geht das Sinus-Institut Fragen zur Lebensrealität von Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren nach: Was bewegt sie im Alltag, was sind ihre Werte und wie nehmen sie gesellschaftliche Themen wahr? 72 Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Milieus teilten ihre Sichtweisen in Interviews, Untersuchungen und Hausarbeiten.

Die Erkenntnisse zum Thema Vorbilder: Neun von zehn Befragten hatten mindestens ein Vorbild. Interessant hierbei ist, dass neben den eigenen Familienmitgliedern, insbesondere der Mutter, vor allem Persönlichkeiten aus den Bereichen Sport und Entertainment inspirierten. Während die männlichen Befragten ausschließlich männliche Spitzensportler wie Cristiano Ronaldo oder Mike Tyson nannten, variierten bei den weiblichen Befragten Geschlecht und Beruf der Vorbilder. Sie führten etwa Sängerinnen und Sänger wie Harry Styles oder Nura sowie Schauspielerinnen und Schauspieler, darunter Marylin Monroe und Taissa Farmiga, an.

Was die Jugendlichen jeweils besonders an diesen Menschen bewundern? Im Familienkreis nehmen sie sich vor allem ein Beispiel an sozialen Kompetenzen wie Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Humor, aber auch an mentaler Stärke. Bei prominenten Vorbildern ist es dagegen eher das Mindset: dass sie an ihrem Weg festhalten und durch Disziplin und Talent Erfolg haben. Ebenso Ansehen bei Jugendlichen finden Menschen, die ihrer Zeit voraus sind und zum Beispiel aktiv gegen Geschlechterklischees vorgehen.2

©von Mende Marketing

UNTERNEHMER HANS HÖFFMANN
Händedruck mit dem Papst

Den Papst persönlich treffen? Unvorstellbar! Das dachte auch Hans Höffmann. Bis er alles daran setzte und am Ende wirklich vor ihm stand. Die Begegnung mit Papst Johannes Paul II. hat ihn tief berührt. Das Kind aus dem Böseler Moor, von ganz unten, und der Heilige Vater, ganz oben. „Ich hätte mir nicht angemaßt, das auch nur zu hoffen“, sagt der 71-Jährige. „Er hat mir einfach die Hand gegeben und damit alles gesagt. Es war ein Händedruck, der mein Leben enthielt.“ Anders als sonst fühlt sich Höffmann gesehen, versöhnt, begleitet im Leben. Unzählige weitere Treffen mit dem Papst folgen. Auch seinen Jugendgruppen ermöglicht er Audienzen. Mittlerweile hat es der Unternehmer selbst weit gebracht – er ist erfolgreicher Reiseveranstalter, wurde mit dem Gregoriusorden sowie dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Doch für ihn bleibt klar: Er urteilt nicht über andere. So wie der Papst, sein Vorbild.

→Wie die Begegnung mit dem Papst Versöhnung brachte, erzählt Höffmann hier.

Auch wenn Kinder und Jugendliche die Frage nach ihrem Vorbild in der Regel sehr viel prompter beantworten können als Erwachsene, steht fest: Unser Bedürfnis, uns an anderen zu orientieren und sich mit ihnen zu vergleichen, bleibt ein Leben lang. Schließlich lernen wir nie aus und gehen auch im fortgeschrittenen Alter noch durch Krisen und Phasen der Neuorientierung. Insbesondere in Zeiten der Unsicherheit können Vorbilder unser Kompass sein. Die Chefin oder der Chef im neuen Job. Eine befreundete Mutter, die voller Power Berufsalltag und die Betreuung der Kinder stemmt. Oder auch ein älterer Mensch, der in seinem Leben die richtigen Prioritäten gesetzt zu haben scheint und jetzt sein Rentnerdasein genießt.

Vorbilder können sich mit den verschiedenen Lebensphasen ändern – je nach unseren Zielen, Wünschen und Vorstellungen. Gelegentlich wenden wir uns auch von ihnen ab, wenn wir merken, dass ihr Einfluss uns nicht guttut, uns unzufrieden macht. Oder wenn sie für etwas stehen, von dem wir feststellen, es eigentlich gar nicht zu wollen. Aber auch die Erkenntnis, dass unsere Idole doch nicht so vorbildhaft sind, und die Suche nach neuen Identifikationsfiguren gehören zum Leben.

 

64 % der Deutschen finden, dass unsere Spitzensportlerinnen und -sportler ein Vorbild in Sachen Fairness sind.4

 

 

Heldenhaft, aber greifbar

Dass jemand als Vorbild dient und mit seinem Handeln inspiriert, bedeutet aber nicht, dass er oder sie perfekt sein muss. Hierin liegt auch der große Unterschied zu anderen Symbolfiguren wie Heldinnen oder Idolen, die wir aus der Ferne auf ihrem Sockel anhimmeln. Vorbilder sind keineswegs perfekt. Auch sie haben – genau wie wir – ihre Defizite und unvorbildhaften Seiten. Man denke zum Beispiel an einen Umweltaktivisten, der sich in seinen persönlichen Beziehungen fragwürdig verhält. Oder eine begabte Künstlerin, die ihre Gesundheit vernachlässigt.

Auch Vorbilder haben einmal klein angefangen. Sie scheitern, gehen durch Krisen und wissen manchmal selbst nicht weiter. „Nobody is perfect“ gilt also für alle, auch für Vorbilder. Genau diese Unvollkommenheit macht sie so authentisch und sorgt dafür, dass wir uns mit ihnen verbunden fühlen. Andersherum gesehen: Je offener Vorbilder mit ihren eigenen Schwächen umgehen, desto größer die Identifikationsfläche.

In den sozialen Medien zeigt sich dieser Effekt besonders gut. Hier lässt sich Nahbarkeit optimal herausstellen, was Kanäle wie Instagram zu einem idealen Umfeld für die Suche nach Vorbildern macht. Influencerinnen und Influencer teilen ihre Höhen und Tiefen mit ihrer Followerschaft, die genau diese Authentizität schätzt, anstatt vermeintliche Schwächen zu verurteilen. Das lässt sich sogar monetär bemessen, wie eine Statista-Studie aus dem Jahr 2023 zu vertrauenswürdigen Eigenschaften von Influencerinnen und Influencern zeigt. Dabei ging Nahbarkeit sogar vor Inhalt: 38 Prozent der Online-Shopping- und Social-Media-Nutzerinnen und -Nutzer gaben an, dass für sie bei der Produktwerbung durch Online-Persönlichkeiten Authentizität und Glaubwürdigkeit an oberster Stelle stehen – nur fünf Prozent fanden die Qualität eines Posts ausschlaggebend.5

@von Mende Marketing

COMEDIAN ULLI LISSNER
Kickstart durch Krömer

Vom Rampenlicht werden manche Menschen magisch angezogen. Zu ihnen gehört Ulrike Lissner. Schon als Kind nutzte die Oldenburgerin jede Gelegenheit für einen Auftritt – je lustiger, desto besser. In der Jugend kamen jedoch Zweifel: „Ich war mir nicht sicher, ob meine Art von Humor gefragt ist“, bekennt die 37-Jährige. Bis sie eines Tages den Komiker Kurt Krömer erlebte. Sein Markenzeichen: die Berliner Schnauze, die auch mal aneckt. „Da wurde mir klar, dass ich mich nicht anpassen muss und meinen eigenen Weg gehen kann.“ Genau das tat die gebürtige Sächsin: Durch unzählige Auftritte machte „Ulli“ sich in der Stand-up-Szene einen Namen. Zudem initiierte und moderiert sie eine Offene Bühne für die nächste Comedy-Generation: Mit „LOLdenburg“ hilft sie nun den Krömers von morgen beim Weg ins Rampenlicht. Die wichtigste Regel dabei: je lustiger, desto besser!

→Wie ihr Vorbild ihr auch durch schwierige Zeiten geholfen hat, berichtet Lissner hier.

Was Vorbilder und uns verbindet

Dass wir uns mit bestimmten Menschen identifizieren können und sie uns zum Vorbild nehmen, sagt nicht nur viel über diese aus, sondern auch über uns selbst. Immerhin vertrauen wir ihnen in wichtigen Lebensfragen. Schon Freud stellte fest, dass die (wahrgenommene) Ähnlichkeit zu uns eine Rolle bei der Wahl des Vorbildes spielt. Wenn wir uns in unseren Vorbildern sehen, identifizieren wir uns besonders stark mit ihnen. In etwa: Zeig mir dein Vorbild und ich sage dir, wer du bist.

Aus unseren Identifikationsfiguren lassen sich entsprechend Rückschlüsse darauf ziehen, in welcher Lebensphase wir uns gerade befinden und welche Richtung wir demnächst einschlagen werden. Sie verraten, was unsere Träume und Wünsche für die Zukunft sind, für welche Werte wir stehen wollen, welche Fähigkeiten wir gerne hätten und was wir gerne noch erreichen würden.

 

Vorbildpotenzial steckt in uns allen

Wenn unsere Vorbilder authentisch, nahbar, sogar unvollkommen sein können, bedeutet das im Umkehrschluss: Auch in uns steckt das Potenzial zum Vorbild, selbst wenn wir das vielleicht gar nicht wissen oder wollen. Für unsere Kinder oder Eltern, die Kolleginnen und Kollegen oder jemanden, den wir durch unser Engagement in einer Gemeinschaft beeindrucken. Wie es Prof. Dr. Margit Stein formuliert: „Wir sind alle Vorbilder, jederzeit, ganz automatisch. Deshalb sollten wir uns dieser Rolle bewusst sein und sie souverän annehmen.“ Ob durch eine große Geste – oder auch nur ein Lächeln oder ein paar inspirierende Worte.

1 UGA today: Online-Beitrag „Influential Friends“ (2010)
SINUS-Institut: „Wie ticken Jugendliche 2024?“ (2024)
3 Otto von Guericke Universität Magdeburg: Online-Pressemitteilung „Online-Befragung zur Studien- und Berufswahl von Frauen“ (2018)
4 Stiftung Deutsche Sporthilfe: Online-Beitrag „Deutsche sehen Spitzensportler:innen als Vorbilder für mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft“ (2021)
5 Statista: Online-Statistik „Umfrage zu vertrauenswürdigen Eigenschaften von Influencern in Deutschland 2023“ (2024)

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