Auf der Spur zu uns selbst.

25. März 2021
© Archivmaterial Klaus Blum

Wie war es eigentlich früher?

Eine einfache Frage, doch sie ist schwerer zu beantworten, als man zunächst denkt. Geschichtsschreibung beschränkt sich auf große Schwünge. Wir wissen, was 753 v. Chr. passiert ist, wir kennen die Jahreszahl 1492 und wir haben gelernt, was es mit dem ­9. November 1989 auf sich hat.

Aber wissen wir, was gleichzeitig vor der eigenen Haustür geschah? Wie unsere Vorfahren lebten? *1786 begibt sich auf eine Spurensuche – und begleitet eine Ammerländer Familie auf ihrem Weg durch die letzten beiden Jahrhunderte.

1773
Bewegte Zeiten für das Oldenburger Land: Nach dem Tod Graf Anton Günthers im Jahr 1667 fällt es zunächst an die dänische Krone. Durch den Vertrag von Zarkosje Selo gehört es 1773 für vier Tage zu Russland und wird danach mit dem Fürstentum Lübeck vereinigt. Ein Jahr später erhebt der Kaiser die Grafschaft zum Herzogtum.

1785
Peter Friedrich Ludwig übernimmt die Regierungsgeschäfte. Ein Glücksfall für das Oldenburger Land, denn er führt verschiedene soziale Leistungen ein. In seine Amtszeit fallen unter anderem die Gründungen der Ersparungscasse (1786, heute: LzO), des Lehrerseminars (1793, heute: Carl von Ossietzky Universität), der Herzoglichen Bibliothek (1792, heute Landesbibliothek) und des Oldenburger Krankenhausfonds (1826, Heute: Klinikum).

1806
Unter Napoleon besetzen die Franzosen auch Oldenburg. Das Herzogtum verliert ab 1811 seine Eigenständigkeit und wird Teil des Département des Bouches-du-­Weser. Innerhalb von 30 Jahren gehörte das Oldenburger Land nunmehr vier Nationen an. Beziehungsweise: fünf. Denn die napoleonischen Truppen der ersten Besatzung von 1806 stammten aus den Niederlanden.

1812
Frühjahr 1812
Hinrich Wardenburg
(*1791, 21 JAHRE)

Es ist ein sonniger Tag in Nordloh, einer kleinen Bauerschaft zwischen Apen und Barßel. Hinrich Wardenburg wischt sich den Schweiß von der Stirn. Am Morgen hat er noch auf den Fehnkanälen Torf geschifft, jetzt arbeitet er auf dem kleinen Acker seiner Familie. Es ist kein leichtes Leben, doch insgeheim ist er froh, dass seine Welt zwar mühevoll, aber immerhin überschaubar ist. Das kann man von anderen Dingen nicht behaupten. Zum zweiten Mal sind die Franzosen in der Gegend und erklären das Oldenburger Land nun zum „Département des Bouches-du-Weser“. Sollen jetzt alle Französisch lernen? „Dumm Tüüg“, denkt Hinrich. „Wi snackt Platt.“ Er krempelt die Ärmel hoch und tröstet sich mit einer Aussicht: Im nächsten Jahr will er seine Helene heiraten und nach Hengsforderfeld übersiedeln. Ihren Kindern soll es einmal besser gehen. Dafür lohnt sich die Plackerei. Apropos: In Oldenburg hat der Herzog gleich nach Übernahme der Regierungsgeschäfte eine

Ersparungscasse zur Unterstützung der Armen gegründet. Der Mann tut Gutes! Hinrichs karge Erträge lassen Rücklagen zwar kaum zu. Aber wenn er mal zu Geld käme, dann wäre ein Sparkonto eine tolle Sache.

Torfschiffer auf Fehnkanal © Moor- und Fehnmuseum Elisabethfehn

Zutaten


Zubereitung


Sollen jetzt alle Französisch lernen? "Dumme Tüüg", denkt Hinrich. "Wi snackt Platt."

1815
Auf dem Wiener Kongress wird das Oldenburger Land zum Großherzogtum erhoben. Es erhält aber nicht – wie erhofft – Ostfriesland und das Emsland zugesprochen, sondern das Fürstentum Birkenfeld. Die Begründung dafür hätte man gern gehört, handelt es sich dabei doch um einen kleinen Flecken in der Pfalz, etwa 500 Kilometer entfernt vom Oldenburger Schloss.

1848
Die Märzrevolution verläuft im Nordwesten geruhsam. Deputationen aus Jever und Oldenburg werden beim Großherzog Paul Friedrich August vorstellig und bitten höflich, eine Verfassung aufzustellen. Zögerlich stimmt er zu, einen Entwurf vorzulegen, über den 34 von ihm ausgewählte Personen beraten durften. Das reichte, um die genügsame Bevöl­kerung in Jubelstürme zu versetzen.

1858
Herbst 1858
Anna Meiners geb. Montagne
(*1815, 43 JAHRE)

Anna Meiners tritt aus ihrer kleinen Kate in das fahle Licht des Oktobermorgens. Der frische Wind weht die Müdigkeit aus ihrem Gesicht. Immerhin – je näher der Winter rückt, desto weniger ist zu tun. Und die Dinge stehen nicht schlecht. Im letzten Jahr hat ihr Mann Hinnerk den kleinen Hof seines Vaters in Hengstforderfeld geerbt. Sie hat das Gefühl, dass es vorwärtsgeht. Endlich! Annas Familie stammt aus Westfalen, ihr Großvater kam als Ziegler nach Edewecht. Als geborene Montagne hat sie sogar französische Wurzeln und träumt manchmal von Paris. Doch Anna mag auch den rauen Charme des Ammerlands. Und immerhin war sie schon einmal in Oldenburg, gewissermaßen das Paris des Nordwestens. Aber auch hier, vor ihrer Haustür, passiert einiges. Im Moor auf der Nordseite des Aper Tiefs wurde vor einigen Jahren ein neuer Ort gegründet: Augustfehn, benannt nach dem Großherzog. Seit Kurzem wird dort Torf in einer neuen Eisenhütte verfeuert. Anna sieht von hier aus die Schlote qualmen. Es gibt sogar Gerede von einer Eisenbahnstrecke. Die Industrialisierung kommt nach Hengstforde. Ausgerechnet!

„Die Industrialisierung kommt nach Hengstforde. Ausgerechnet“

Eisenhütte Augustfehn © Apen Touristik

1890
Sommer 1890
Johann Meiners
(*1857, 33 JAHRE)

Johann Meiners ist stolz. Er steht auf seinem eigenen Grund und Boden. Etliche Jahre hat er – wie seine Brüder Christian und Gerd – in der Eisenhütte geschuftet. Was für eine Knochenarbeit! Zwischen Hitze und Lärm, abwechselnd Tag- und Nachtschicht, von sechs bis sechs. Aber immerhin konnte er etwas Geld verdienen: 2,10 Mark pro Tag. Den väterlichen Hof hatte sein ältester Bruder übernommen; als siebtes und jüngstes Kind hatte er das Nachsehen. Aber nun hat Johann genug gespart, um sich ein Hektar Land kaufen zu können. Der Boden ist nicht gut, die Knochenarbeit wird hier wohl weitergehen. Aber: Wat mutt, dat mutt. Johann greift in seine Tasche und nimmt den Beutel mit Kautabak heraus. Seine Marke ist Schrimper, starker Tobak aus Oldenburg. Einen Moment kaut er sinnierend vor sich hin und genießt die Wirkung des Nikotins. Dann greift er wieder zum Spaten. Irgendwann, so schwört er sich, wird er hier ein Haus bauen. Vier Kinder hat er mit seiner Frau Margarete schon – und wer weiß, vielleicht werden es noch mehr?

„Der Boden ist nicht gut, die Knochenarbeit wird hier wohl weitergehen.“

Johann Meiners im Alter von ca. 98 Jahren © Archivmaterial Klaus Blum
© Archivmaterial Klaus Blum

1918
Auch die Novemberrevolution wird ihrem Namen in Oldenburg nicht gerecht. Großherzog Friedrich August kommt etwaigen Protesten zuvor und dankt ab. Im nächsten Juni erfolgt die Gründung des Freistaates Oldenburg, ein eigenständiges republikanisches Land im Deutschen Reich. Bereits 1920 finden die ersten Wahlen statt. Doch die junge Demokratie wird ihre Unschuld schon bald verlieren.

1929
Herbst 1929
Johann „Jann“ Meiners
(*1897, 32 JAHRE)

Es ist später Nachmittag, die Sonne steht tief. Jann Meiners schaut nach Westen, in die mächtigen Kronen der alten Eichen. Die Strahlen funkeln durch das Laub. Als Knecht hat er immer viel zu tun, aber er gönnt sich diese kleinen Momente. Es ist so viel passiert! Erst der Krieg, die Ostfront, dann die Revolution, der Frieden, jetzt die Republik und diese neumodischen Erfindungen. Maschinen, Fabriken, Automobile! Erst gestern hat er eines gesehen, hier in Specken. Was für ein Lärm und Gestank! Jann fühlt sich etwas verloren zwischen alledem. Er ist kein Träumer, doch er hat einen Traum: ein Stück Land finden, etwas Eigenes aufbauen, mit Anni und den Kindern sesshaft werden. Sein Vater Johann hat es geschafft: Aus dem Nichts hat er einen bäuerlichen Betrieb erschaffen – mit Wohnhaus, Stall und Scheune. So etwas gibt Sicherheit und Zuversicht in diesen unruhigen und schwierigen Zeiten. Jann würde jetzt gerne ein Pfeifchen rauchen, doch das muss noch warten. Stattdessen nimmt er den Besen: Das Eichenlaub wartet. Es gibt immer viel zu tun.

Jann Meiners und Familie © Archivmaterial Klaus Blum
Jann Meiners und Familie © Archivmaterial Klaus Blum

1932
Im Freistaat Oldenburg erreicht Adolf Hitlers NSDAP erstmals bei einer Landtagswahl die absolute Mehrheit. Die Nationalsozialisten holen über 48 Prozent der Stimmen und können fortan allein regieren.

1945
Gegen die heranrückenden kana­dischen und britischen Truppen gibt es vereinzelt heftigen Widerstand, doch der größte Teil des Oldenburger Landes wird kampflos übergeben. Auf diese Weise bleibt die Region von großen Zerstör­ungen verschont. Der Freistaat ist nach 27 Jahren bereits Geschichte; ­Oldenburg wird Teil des neu ­gegründeten Bundeslandes ­Niedersachsen.

1963
Sommer 1963
Herta Blum geb. Meiners
(*1934, 29 JAHRE)

Herta Blum kann es kaum glauben. Wie sich die Dinge verändern! Sie erinnert sich noch genau an den Krieg – an die Angst vor den Fliegern, an den Schutz in der Torfhütte im Fintlandsmoor. Für Opa Johann war es schon der fünfte Krieg. Trotzdem ist er 100 Jahre alt geworden und war lange Zeit der älteste Ammerländer überhaupt. Dank seines Geheim- rezepts: „Väl Arbeid, eenen goden Priem un eenen lüttjen Sluck.“ Auch die Zeit nach dem Krieg war schwierig. Aber heute? Das Leben fühlt sich so viel leichter an! In den Nachrichten sprechen sie vom „Wirtschaftswunder“ und „Wohlstand für alle“. Auch hier kommt ­et- was davon an. Spätestens seit 1949, als ihr Va- ter Jann endlich das lang ersehnte Stück Land für seinen Hof gefunden hatte! Sie waren die ersten Siedler in Wittenberge-Lohorst, noch ohne Licht und ohne Straße. Vorher waren sie viel rumgekommen, bis nach Ludwigslust bei Schwerin! Aber erst hier fühlt sich alles richtig an. Und dank eines Kredits von der LzO konnten sie den Hof sogar noch erweitern. Doch nun naht ihr Abschied. Vor Kurzem hat Herta ihren Alfred geheiratet und zieht zu ihm nach Wehnen. Sie wünscht sich Kinder; und sie hofft, dass sie es gut haben werden.

Walter und Herta Meiners © Archivmaterial Klaus Blum
© Archivmaterial Klaus Blum

1975
In einem Volksentscheid votieren die Stimmberechtigten für einen Austritt aus dem Bundesland Niedersachsen und für die Wiederherstellung des Freistaates Oldenburg. Im Januar 1976 erteilt der Deutsche Bundestag diesem Vorhaben allerdings per Gesetz eine Absage. Alles bleibt beim Alten.

 

Die Geschichte der Familie Meiners ist hier natürlich nicht zu Ende …

Sie setzt sich fort, verzweigt sich und vereint sich mit anderen. Beim Abenteuer Ahnenforschung geht der Blick allerdings zurück. Wir begegnen früheren Generationen und folgen damit einer Spur zu uns selbst. Denn wir erfahren, woher wir kommen, was uns ausmacht – und wie wir wurden, wer wir sind. Übrigens: Herta Blums Hoffnung hat sich erfüllt. Ihrer Tochter und den beiden Söhnen geht es gut. Einer von ihnen ist heute Direktor für das Firmenkundengeschäft bei der LzO. Sein Hobby: Ahnenforschung. Was ihn an diesem Thema begeistert, lesen Sie im Blogbeitrag „Alte Zeiten, neu erzählt“.

Sie wollen mehr über die Heimat der Familie Meiners erfahren?

Einen guten Gesamteindruck gewinnt man bei apen-touristik.de
Radfans entdecken Windmühlen, ­Klappbrücken und Gulfhäuser entlang der deutsche-fehnroute.de
Gut essen gehen kann man in der liebevoll restaurierten eisenhuette.com
Wer länger bleiben möchte, übernachtet in der hengstfordermuehle.de
Geschichtsinteressierte besuchen das fehnmuseum.de

 

„Die eigene Familienhistorie und die Weltgeschichte im Kontext zu sehen – das hat für mich eine ganz neue Motivation bedeutet“

Klaus Blum

© Archivmaterial Klaus Blum
© Archivmaterial Klaus Blum