Herr Tolan, Sie engagieren sich im jesidischen Forum Oldenburg. Können Sie uns etwas mehr zur Organisation und Ihrer Tätigkeit dort verraten?
Das jesidische Forum Oldenburg wurde 1993 gegründet. Den Anstoß gab eine Gruppe junger Jesidinnen und Jesiden, zur Gründung kamen auch Ältere hinzu – so entstand ein Vorstand, in dem Jung und Alt Verantwortung übernahmen. Ich war einer von ihnen. Von Anfang an haben wir gemeinwesenorientierte Arbeit geleistet, Familien beraten und Räume geschaffen, in denen wir unsere kulturelle und religiöse Identität leben und weitergeben können.
Ein Schwerpunkt war die Flüchtlingssozialarbeit. Die Begleitung bei Asylverfahren, Erstellung von Menschenrechtsberichten, Hilfe im Alltag. Nach dem Völkermord 2014 intensivierte sich diese Arbeit erneut, etwa durch Hilfstransporte, Spendenaktionen und internationale Hilfsprojekte.Daneben sind die Jugend- und Kinderarbeit sowie die Öffentlichkeitsarbeit feste Säulen. Viele Akteurinnen und Akteure begleiten junge Menschen – wir tragen dazu bei, indem wir Kompetenzen und Orientierung vermitteln und sie ermutigen, Verantwortung zu übernehmen. Auch Mädchengruppen, Religionsunterricht und öffentliche Veranstaltungen, die unsere Religion und Kultur sichtbar machen, gehören dazu. Viele aus unserer Gemeinschaft haben ihren Weg gemacht. Jesidinnen und Jesiden sind längst Teil der Gesellschaft.
„Wer in seiner Familie Flucht, Entbehrung und Unsicherheit erlebt hat, der weiß, wie wertvoll es ist, heute in Deutschland in Freiheit und Sicherheit leben zu dürfen.“ – Telim Tolan
Was brachte Sie dazu, sich ehrenamtlich für Jesiden und Jesidinnen einzusetzen?
Das Engagement für andere Menschen und die Verbundenheit mit unserer Kultur und Religion haben mich schon als Kind geprägt. Mein Umfeld war von Migration und Neubeginn bestimmt: Ich komme aus einer Gastarbeiterfamilie, meine Eltern hatten selbst Fluchthintergrund und kaum Bildungschancen. Mein Vater arbeitete zeitweise in zwei Jobs, meine Mutter zog sieben Kinder groß und arbeitete zusätzlich als Reinigungskraft, um das Nötigste zu sichern.
Wir wuchsen in einfachen Verhältnissen auf, teilten uns die Zimmer zu dritt oder viert. Unsere Eltern haben uns trotz aller Schwierigkeiten gestärkt und uns Werte mitgegeben, die unser Handeln bis heute tragen: Ehrlichkeit, Fleiß und Verantwortung. Wer in seiner Familie Flucht, Entbehrung und Unsicherheit erlebt hat, weiß, wie wertvoll es ist, heute in Deutschland in Freiheit und Sicherheit leben zu dürfen. Dieses Land eröffnet uns Chancen – und es fordert zugleich, dass wir alle etwas beitragen, jeder nach seinen Möglichkeiten. Darum ist Ehrenamt für mich mehr als Engagement: Es ist eine Frage der Haltung. Verantwortung übernehmen, nicht nur für die eigene Gemeinschaft, sondern für die Gesellschaft insgesamt.