Stadt oder Land: Wie wollen wir wohnen?


Wer in diesen Tagen ein Zeitschriftenregal passiert, müsste annehmen, dass wir es mit einer grassierenden Stadtflucht zu tun haben. Unzählige Magazine schwärmen von der Lust am Leben auf dem Land. Und tatsächlich: Der bisherige Trend des 21. Jahrhunderts – mit Urbanität als Sehnsucht – hat sich zuletzt umgekehrt. Viele Städte verlieren Einwohner:innen an das Umland. Ob Momentaufnahme oder Paradigmenwechsel: Wohnen wandelt sich, im Großen wie im Kleinen.

12. April 2022

Die einen zieht es in die Stadt, die anderen aufs Land oder sogar ans Meer. Für alle gilt: Wohnbedürfnisse sind unterschiedlich. ©WiNZiG Wohnen

Ein üppig gedeckter Frühstückstisch in der Morgensonne, umgeben von einem Meer aus bunten Blüten, eingerahmt in einen traumhaften Landschaftsgarten. Etwas entfernt: mächtige Eichen, die das Grundstück säumen. Hinter ihnen beginnen Wiesen und Wälder. Wer würde an diesem Lieblingsplatz nicht in sein Croissant beißen wollen? Deshalb: raus aufs Land!

Doch halt, so einfach ist es nicht. Die Antworten auf die Frage, wie wir wohnen wollen, fallen anders aus als früher – variantenreicher und flexibler, manchmal mutiger, notfalls kompromissbereiter. Stadt oder Land? Das ist nur eine von vielen Fragen. Drei große Trends kristallisieren sich heraus.

 

TREND 1: DIE STADT WEITER DENKEN

Das Oldenburger Land hatte schon immer eigene Gesetzmäßigkeiten. Selbst im urbanen Zentrum Oldenburg leben zwei Drittel der Bevölkerung im Einfamilienhaus. Eine Rarität für eine Großstadt. Mit der Folge, dass Oldenburg deutlich kleiner aussieht, als es eigentlich ist. Was überzeugte Metropoliten als Dilemma betrachten, kann man auch entgegengesetzt interpretieren: als städtebauliche Qualität. Denn Häuser bedeuten eben auch Gärten, Ruhe, Luft zum Atmen. Diese beinahe dörfliche Struktur war eine Vorwegnahme vom Modell Schwammstadt , dessen Umsetzung anderenorts wesentlich mehr Aufwand bedeutet als hier.

Ansturm aufs Umland

Oldenburg, so schien es lange, bot das Beste aus zwei Welten. Doch zuletzt versiegte das Angebot an Grundstücken nahezu vollständig. Gerade einmal 67 Verkäufe wurden für das Jahr 2021 gemeldet – so wenig wie nie zuvor. Baugebiete in den umliegenden Gemeinden erleben als Reaktion einen Ansturm aus der benachbarten Großstadt. Oft sind sie zehnfach überzeichnet, wie zuletzt die „Stapelriede“ in Wardenburg. Bisheriger Spitzenreiter ist aber das Gebiet an der Feldstraße in Rastede-Ipwege. Für gerade einmal 16 Grundstücke gab es 364 Bewerbungen – 218 davon aus Oldenburg.

 

„Wir gehen mit Neubaugrundstücken kaum noch aktiv in die Vermarktung – wir werden förmlich überrannt.“
Hans-Günther Speckmann, Immobilienexperte der LzO

 

Das ist ebenso im Münsterland zu beobachten. So gab es in Cloppenburg-Stapelfeld für 16 Grundstücke sogar 399 Interessent:innen. Immerhin: Dort kamen dank Losverfahren auch Auswärtige zum Zug.

Bei der Planung war Familie Krause klar: Ihr Neubau in Wardenburg sollte Platz bieten und gleich zwei Generationen mitdenken. ©Hendrik Mödden
Der Speckgürtel wird breiter

Interessent:innen entdecken deshalb die Reize von Orten, die früher zu weit entfernt schienen. Zum Beispiel das Baugebiet Frieslandkaserne in Varel. Selbst dort stammt ein Drittel der Käufer:innen aus dem 30 Kilometer entfernten Oldenburg – nicht zuletzt dank ausgezeichneter Autobahn- und ÖPNV-Anbindung. Wichtig war aber auch die Verbreitung des Homeoffice. Bei vielen Berufstätigen ist das Arbeiten von Zuhause tageweise erhalten geblieben. Wer nur noch drei anstatt fünf Mal pro Woche ins Büro fährt, ist durchaus bereit, längere Strecken zu fahren – und realisiert sich den Traum vom Haus dort, wo er noch bezahlbar ist. Zudem ist die digitale Infrastruktur auf dem Land nicht zwangsläufig schlechter. So lag das Glasfaserkabel in der Bauernschaft Kleinenkneten bei Wildeshausen früher in der Erde als im Oldenburger Dobbenviertel.

Homeoffice auf dem Land

Auch auf die Art des Wohnens wirkt sich das Homeoffice aus. „Das berühmte dritte Zimmer hat heute eine ganz andere Bedeutung“, erklärt Speckmann. „Früher dachte man an Kinder oder Wäscheständer, jetzt an den Schreibtisch.“ Es gibt sogar Arbeitgeber:innen, die von ihren Mitarbeiter:innen erwarten, von Zuhause aus arbeiten zu können. Auch diese Veränderung lässt sich leichter auf dem Land realisieren, wo der Quadratmeterpreis nur einen Bruchteil der städtischen Tarife ausmacht.

„Stadt und Land vermischen sich“, resümiert der Immobilienexperte. „Der Speckgürtel wird weitergedacht. Früher meinte man damit die Dörfer direkt an der Stadtgrenze. Im Fall Oldenburgs also Hundsmühlen, Metjendorf, Wahnbek. Heute reicht der Radius weit in die Landkreise Friesland und Ammerland hinein.“ Die neue Konkurrenzfähigkeit des ländlichen Raums zeigt sich nicht zuletzt in der Baulandstatistik: 60 Prozent aller Grundstücke in Niedersachsen wurden dort verkauft. Vor zehn Jahren waren es noch 40 Prozent.

Zweigenerationenwohnen:
Wieso ein Haus die Zukunft mitdenkt

Das Leben lässt sich nicht immer genau planen, das eigene Zuhause dagegen schon. Wer wüsste das besser als Anke und Ingo Krause? Als die Tochter schwer krank, ein weiteres Kind geboren und der Raumbedarf des Sohnes größer wurde, musste das Paar sein ursprüngliches Wohnkonzept noch einmal überdenken: „Wie wollen wir als fünfköpfige Familie mit schwerbehindertem Kind wohnen?“ Die Antwort gibt ihr neu gebautes Eigenheim in Wardenburg. Warum es nicht nur wohnlich, sondern auch gewitzt ist?

Lesen Sie hier die Wohn-Story von Familie Krause >>

TREND 2: ALTERNATIVE WOHNFORMEN LEBEN

Ein Neubaugebiet im Oldenburger Land. Erste Häuser füllen sich mit Leben, andere wachsen gerade in die Höhe. Schwere Lastwagen rollen über die Baustraßen, Zimmerleute hämmern rhythmisch an einem Dachstuhl. Und noch etwas fällt auf: Wo früher oft homogene Eindrücke vorherrschten, variieren die Entwürfe heutzutage deutlich – von Kubus bis Krüppelwalmdach. So unterschiedlich die Menschen in der Region sind, so unterschiedlich sind eben auch ihre Traumhäuser.

Im Ergebnis wirkt diese Vielfalt allerdings manchmal unruhig. „Wir sollten modern und gleichzeitig regionaltypisch bauen“, fordert daher Kerstin Oesterling, Regionalvertreterin für die Region Elbe-Weser der Architektenkammer Niedersachsen. „Dadurch entsteht ein Wiedererkennungswert und eine bessere Akzeptanz im Umfeld.“ Zudem spielt die ökologische Verträglichkeit eine große Rolle: „Immer größere Häuser auf immer kleineren Grundstücken schaffen nicht unbedingt mehr Wohnqualität. Wir müssen nachhaltiger bauen.“

Nachhaltig bauen

Genau das passiert bereits. Vor allem die Unabhängigkeit von fossilen Ressourcen gewinnt angesichts der Preisentwicklungen an den Rohstoffmärkten an Bedeutung. „In manchen Baugebieten gibt es überhaupt keine Gasanschlüsse mehr“, weiß Hans-Günther Speckmann. Stattdessen sind Wärmepumpen, Photovoltaikanlagen, Gründächer und Ladestationen für das Elektroauto obligatorisch. Dieser Trend lässt sich auch in den Statistiken der KfW-Förderbank ablesen: Für die Programme „Energieeffizienz“ und „Erneuerbare Energien“ wurden im Jahr 2021 fast 19.000 Anträge aus dem Oldenburger Land bewilligt. Über 600 Millionen Euro flossen auf diese Weise in die Region.

Verzicht als Befreiung: das Tiny House

Eine andere Form der Umweltverträglichkeit sind die „Tiny Houses“ . Dabei handelt es sich um minimalistische – in der Regel sogar mobile – Wohnentwürfe, die sich auf das Nötigste beschränken. Die Grundflächen bewegen sich meist unterhalb der 20-Quadratmeter-Marke. Noch ist diese Wohnform sehr neu – und für manche sicherlich gewöhnungsbedürftig. Doch erste Gemeinden beginnen, Areale für Minihäuser in ihre Bauplanungen aufzunehmen. Darunter Bad Zwischenahn und Wiefelstede.

Tiny House oder Bungalow, Kubus oder Krüppelwalmdach – Wohnen gestaltet sich im Oldenburger Land heute variantenreicher. ©Bild: Qang Jaka, unsplash.com; ©Illustration: von Mende Marketing

Tiny House:
Die Sehnsucht nach Reduktion

Winzig? Findet Rico Janssen „überhaupt nicht!“. Sein Beschluss steht fest: Er möchte und wird in ein Tiny House ziehen. Auf den Geschmack gekommen ist er bei einem Spontanaufenthalt. Das Beispielhaus der Firma WiNZiG Wohnen stand in Elsfleth, direkt am Weserufer. „Genau so will ich in Zukunft wohnen!“, erzählt er begeistert. Bedeutet: auf kleinstem Raum und auf das Nötigste beschränkt. Der 38-Jährige sieht die Wohnform als Antwort auf stetig steigende Baukosten und auf die Sehnsucht nach Reduktion. Was ihn noch daran hindert, seine Pläne umzusetzen?

Lesen Sie hier mehr zu Rico Janssen und der Tiny-House-Bewegung >>

Näher zusammenrücken im Mehrfamilienhaus

Gleichzeitig gibt es auch die gegenteilige Entwicklung: Verdichtung. Sie ist durchaus auch in Delmenhorst oder Cloppenburg zu beobachten, kristallisiert sich aber am stärksten in Oldenburg heraus. So ragen am Alten Stadthafen seit Neuestem zwei Wohntürme mit bis zu elf Geschossen in den Himmel und bilden ein Tor zum Küstenkanal. Das atemberaubende Loft mit Blick über eine Marina gibt es also nicht mehr nur in Miami oder Dubai, sondern auch an der Hunte.

Derart große und luxuriöse Gebäude dürften die Ausnahme bleiben, grundsätzlich sind Mehrfamilienhäuser aber auf dem Vormarsch. Das einst städtische Phänomen sieht man inzwischen auch in ländlichen Umgebungen. „Die gehören mittlerweile überall dazu, in Varel und Friesoythe genauso wie in Oldenburg“, erläutert Hans-Günther Speckmann. Viele ihrer Vorteile funktionieren eben auch dort: das günstige Kosten-Flächen-Verhältnis, ihre bessere Umweltbilanz und die Möglichkeit, Gemeinschaftsräume wie Werkstätten einzurichten. Zudem gilt ein einfacher Grundsatz: Bezahlbare Wohnungen sind überall gefragt – und die findet man am ehesten im Mehrfamilienhaus.

 

TREND 3: ENTSPANNT ÄLTER WERDEN

Nicht nur Pandemie und Preisspirale haben Bewegung in den Immobilienmarkt gebracht, auch gesellschaftliche Faktoren spielen eine Rolle. Zum Beispiel die Demographie. In einer älter werdenden Bevölkerung spielt die „Alterseignung“ von Wohnraum eine wichtige Rolle. Je weniger Stufen es zu überwinden gilt, desto besser. Viele denken deshalb an den Umbau der eigenen Immobilie – doch es gibt auch andere Optionen.

Die Rückkehr des Bungalows

Dazu gehört die Rückkehr des Bungalows. „Wir haben solche Immobilien in Ganderkesee erstmals wieder angeboten“, berichtet Hans-Günther Speckmann von einem Experiment. Das Ergebnis: „Sie wurden uns aus den Händen gerissen. Wir waren selbst überrascht.“ Bei weiteren Bauprojekten, etwa in Varel und Barßel, gab es ebenfalls eine große Nachfrage. „Einen kleinen Garten möchten die Menschen nicht missen. Gleichzeitig fragen Sie sich: Wie viel Raum brauche ich eigentlich?“ Mit dieser Haltung sind die Menschen hier am Puls der Zeit: Ja zum Land, aber Nein zum Flächenfraß.

Doppelbungalow:
Weil Freiheit zählt

Noch holt sich Hündin Wilma nasse Pfoten in den Pfützen der Baggerfurchen und fehlt Farbe an den Wänden. Bald aber werden Petra und Bernd Marschner ihre Hälfte eines frisch fertiggestellten Doppelbungalows mit 100 Quadratmeter Wohnfläche und Wintergarten beziehen – und damit einen neuen Lebensabschnitt einläuten. „Wenn unsere Wohnform nicht mehr unserer Lebenssituation entspricht, lösen wir uns von ihr“, erklärt das Paar. Was ihm mit diesem Schritt gelingt – im Gegensatz zu vielen anderen?

Lesen Sie hier die ganze Geschichte von Petra und Bernd Marschner >>

Mehrgenerationenhäuser als Antwort auf die Demographie

Für immer mehr Menschen kommt auch generationenübergreifendes Zusammenleben in Betracht. Im Idealfall profitieren Jung und Alt von ihrer Unterschiedlichkeit, etwa durch den Tausch von Zeit gegen Mobilität, von Wissen gegen Talente. Heutige Mehrgenerationenhäuser bieten häufig moderne Architektur bei zeitgemäßer Ausstattung. „Früher wurden Studentenbuden und Seniorenapartments getrennt gedacht. Heute fragt man durchaus: Wie bringen wir das zusammen?“, erklärt Immobilienexperte Speckmann den Gedanken. Kurze Wege sind für die Jungen eben genauso attraktiv wie für die Älteren – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Studentenwerk trifft Bürgerverein

Einen anderen Ansatz empfiehlt Daniel Fuhrhop. Er forscht an der Oldenburger Carl von Ossietzky Universität an flächensparenden Wohnkonzepten. Sein Appell: „Lasst uns so viel Wohnraum wie möglich in Altbauten schaffen!“ Ein Beispiel dafür ist „Wohnen für Hilfe“. Dieses Angebot gibt es bereits in über 30 deutschen Städten, seit einigen Jahren auch in Oldenburg. Das Prinzip: Studierende unterstützen Senior:innen im Haushalt und Garten. Im Gegenzug wohnen sie kostenfrei im zu groß gewordenen Haus. Fuhrhop sieht dabei auch soziale Vorteile:

 

„Wenn in den Altbauten wieder mehr Menschen wohnen, entstehen Nähe und Nachbarschaft. Wohnraum finden heißt Menschen verbinden.“

Daniel Fuhrhop ist Autor der Streitschrift „Verbietet das Bauen“ und forscht zur optimierten Wohnraumnutzung.

 

Studentenwerk und Bürgervereine führen Angebot und Nachfrage zusammen – und sorgen gemeinsam für neues Leben in alten Häusern.

Wohnmix:
Gemeinsam gestalten, streiten, leben

Nicht nebeneinander, sondern miteinander zu wohnen – diesen Kerngedanken symbolisiert das Wohnmixhaus im Oldenburger Stadtteil Osternburg. In 21 Wohneinheiten leben Menschen von 3 bis 82 Jahren, als Familie oder WG, Paar oder Single, mit unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen und aus unterschiedlichen Gegenden der Welt. Sie teilen nicht immer die gleiche Meinung, aber viele kleine und große Momente im Alltag. Und die Überzeugung, dass die individuellen Lebensumstände der Ausgangspunkt für eine menschen- und generationenübergreifende Symbiose sind.

Lernen Sie hier die Bewohner:innen von Wohnmix kennen >>

FAZIT: HAUPTSACHE HIER

Ob die Zeitschriftenregale Recht behalten? Ist es tatsächlich eine Zeitenwende? Oder doch nur eine Momentaufnahme? Eines zumindest steht fest: In Zeiten der Digitalisierung verlieren räumliche Bezüge an Bedeutung und der innere Wunsch nach der subjektiv perfekten Wohnform bekommt mehr Spielraum. Wie wir wohnen wollen? Das lässt sich tatsächlich nicht leicht beantworten. Einfacher dagegen ist die Frage nach dem Wo. Die Antwortet darauf lautet in jedem Falle: hier.

Zurück zur
Übersicht