Wendepunkt Produktinnovation: Wie Rügenwalder Mühle die Zeichen der Zeit erkannte

Alte Wurzeln, neue Wege

9. Oktober 2024

Herstellung veganes Produkt bei Rügenwalder Mühle

©Rügenwalder Mühle

Genau 180 Jahre hatte Rügenwalder Mühle Fleisch verarbeitet, als im Jahr 2014 das erste vegetarische Produkt mit dem markanten Mühlenlogo auf den Markt kam. Das Unternehmen aus Bad Zwischenahn hatten einen Wandel in der Gesellschaft als Chance interpretiert und wurde dadurch zum Spezialisten für zwei – vermeintlich – gegensätzliche Produkt-Kategorien.


Was würde Carl Müller wohl denken? Als der Fleischer im Jahre 1834 seinen kleinen Betrieb im pommerschen Rügenwalde eröffnete, ging es ihm um die Versorgung seiner Kundschaft vor Ort an der Ostsee, auf halber Strecke zwischen Danzig und Stettin. Dass sein Unternehmen eines Tages im Ammerland ansässig sein würde? Mit achthundert Mitarbeitenden? Als Innovationstreiber in einem neuen Markt für fleischlose Produkte? All das dürfte weit außerhalb seiner Vorstellungskraft gelegen haben. Und doch ist es genau so gekommen.

Nicht alles hatte dabei mit unternehmerischem Gespür zu tun. Eine einschneidende Veränderung – nämlich die Verlagerung des Unternehmenssitzes – war im wahrsten Sinne des Wortes aus der Not geboren. Unter dramatischen Umständen musste die Familie Müller 1945 aus Westpommern ins Oldenburger Land fliehen und ihre Existenz neu aufbauen. Aus dem buchstäblichen Nichts gelang es ein zweites Mal, einen Fleischereibetrieb zu gründen, der trotz des Ortswechsels erneut Rügenwalder Mühle heißen sollte. Die Entwicklung verlief überaus positiv, in den folgenden Jahrzehnten wurde die Marke deutschlandweit bekannt. Entscheidende Treiber dafür: Innovationskraft, Mut und unternehmerischer Weitsicht. All das sollte auch bei der größten Veränderung der Unternehmensgeschichte eine Rolle spielen.

Die Chance in der Nische

„Anfang der 2010er Jahre haben wir wahrgenommen, dass Fleischkonsum zunehmend kritischer gesehen wurde“, erzählt Claudia Hauschild, Leiterin der Unternehmenskommunikation. Dafür habe es unterschiedliche Gründe gegeben, wie etwa Klima, Tierwohl und Gesundheit. Das Herausfordernde war, dass man es bei dieser gerade erst beginnenden Veränderung nicht mit einer plötzlichen Disruption zu tun hatte, sondern mit einem schleichenden Prozess. Wie schnell er fortschreiten und wie lange er andauern würde, war zu diesem Zeitpunkt noch unklar. Etwas anderes stand bei der Kundschaft dagegen nie in Frage: der Geschmack des Fleisches. Und so reifte bei Rügenwalder Mühle die Idee, eine vegetarische Wurst herzustellen, die genauso aussieht und schmeckt wie ihr Vorbild aus Fleisch. „Wir haben diesen gesellschaftlichen Wandel, der sich damals wirklich noch in der Nische befand, als Chance gesehen, nicht als Bedrohung“, beschreibt es Hauschild. „Wir haben uns immer schon getraut, Dinge anders zu machen und Bestehendes zu hinterfragen, das steckt in der DNA unseres Familienunternehmens.“

Ebenfalls in der Nische befand sich seinerzeit auch der Markt für vegetarische und vegane Produkte. Das Angebot war überschaubar, in manchen Supermärkten suchte man sogar vergebens danach. Hier eine geschäftliche Perspektive zu erkennen? Das verlangte eben jene Weitsicht, die Rügenwalder Mühle schon immer auszeichnete: „Wir haben eine klare Vision. Wir wollen die Zukunft der Ernährung mitgestalten und als maßgeblicher Player Trends erkennen und setzen“, betont Hauschild.

©Rügenwalder Mühle

Vom Erfolg überrascht

Dafür war zunächst einmal Pionierarbeit nötig. Denn als Rügenwalder Mühle im Jahr 2014 seine vegetarischen Produkte auf den Markt brachte, war es das erste fleischverarbeitende Unternehmen in Deutschland, das diesen Schritt ging. „Wir haben den Markt erst einmal aufgebaut. Denn zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Daten, keine große Forschung oder Erfahrung mit dieser Art von Produkten“, so die Kommunikationsexpertin. Kein Wunder, dass Rügenwalder Mühle für diese Entscheidung anfangs durchaus belächelt wurde. Auch intern habe es Verunsicherung gegeben. Die Sorge um den Job sei laut Hauschild aber unbegründet gewesen: „Wichtig für eine gelungene Transformation ist, dass man alle ins Boot holt. Der Weg klappt nur, wenn alle nach vorne und nicht in den Rückspiegel blicken und in eine gemeinsame Richtung gehen.“

 

„Wichtig für eine gelungene Transformation ist,
dass alle in eine gemeinsame Richtung gehen.“

Claudia Hauschild, Leiterin der Unternehmenskommunikation bei Rügenwalder Mühle

 

Das war bei Rügenwalder Mühle umso wichtiger, weil bald das Know-how und Engagement aller Arbeitskräfte gefragt waren. Zwar sei der Marktstart voller Zuversicht vorbereitet worden, der Erfolg der neuen Produkte übertraf aber dennoch alle Erwartungen: „Wir mussten unsere Wochenproduktion innerhalb kürzester Zeit von fünf auf einhundert Tonnen hochfahren“, blickt die Leiterin der Unternehmenskommunikation zurück. Die Kundinnen und Kunden kauften also das Zwanzigfache dessen, was prognostiziert worden war – ein spektakulärer Erfolg.

©Rügenwalder Mühle

Mehr als nur Ersatz

Der Markt für Fleischersatzprodukte wuchs in der Folge stetig, nicht zuletzt durch jene Angebotsvielfalt, zu der Rügenwalder Mühle mit seinen Innovationen maßgeblich beitrug. Das hatte eine umfangreiche Transformation des Unternehmens zur Folge: Der Hauptstandort in Bad Zwischenahn wurde ausgebaut und um neue Standorte erweitert. Was man von außen stärker wahrnimmt: Die Vertriebs- und Marketingabteilung wurde völlig neu aufgebaut und ist nun in Hamburg nah am Puls der aktuellen Marketing-Trends. „Wir gehen also neue Wege und bleiben gleichzeitig unseren Wurzeln treu“, wie es Hauschild formuliert.

Rückenwind kam weiterhin vom Konsumverhalten der Bevölkerung.  Auf Bundesebene verdoppelte sich die Produktion von Veggie-Patty, Tofu-Bratwurst und Co. zwischen 2019 und 2022, während der Fleischverzehr pro Kopf im gleichen Zeitraum um 12 Prozent sank. Die Folge: Im Jahr 2021 verkaufte Rügenwalder Mühle erstmals mehr vegane und vegetarische Produkte als Fleisch- und Wurstartikel. „Inzwischen liegt dieser Anteil sogar bei sechzig zu vierzig“, weiß die Kommunikationschefin, die vor vier Jahren vom Brauereikonzern Anheuser-Busch InBev ins Ammerland wechselte.

 

Alle an einem Tisch

So eindeutig die Trendverläufe auch sind, so klar bleiben vorerst auch die Kräfteverhältnisse. Zwar ernähren sich 12 Prozent der Bevölkerung vegetarisch oder vegan, mit Fleisch wurde im Jahr 2023 aber dennoch das Achtzigfache umgesetzt. Sowieso hält Hauschild nichts davon, Fronten zu verhärten. „Das Thema Ernährung ähnelte in der Vergangenheit manchmal fast einem Glaubenskrieg“, sagt sie. Diese Spaltung in der Gesellschaft beim Thema Essen werde inzwischen von vielen Menschen als belastend empfunden. Erklärtes Ziel von Rügenwalder Mühle sei es deshalb, allen ein Angebot zu machen: „Wir verbinden, anstatt zu spalten. Wir holen alle an einen Tisch, ohne dogmatisch erhobenen Zeigefinger. Jede Ernährungsweise hat ihre Berechtigung.“

Wer auf die traditionelle Teewurst schwört, muss sich also keine Sorgen machen: Auch in Zukunft wird es beide Geschäftsbereiche geben. Dennoch sei laut der Kommunikationsexpertin für das Unternehmen klar: „Für uns sind Fleischalternativen ein klarer Zukunfts- und Wachstumsmarkt.  Daher bauen wir unsere Kapazitäten hier weiter aus, um uns in der Rolle als Marktführer und Vorreiter weiter zu behaupten.“

Die Frage, was Fleischermeister Carl Müller über die Entwicklungen denken würde, bleibt zwangsläufig unbeantwortet. Es spricht aber viel dafür, dass er Claudia Hauschild zustimmen würde, wenn sie feststellt: „Wir sind sehr stolz auf den unternehmerischen Mut, der vor zehn Jahren mit ausschlaggebend dafür war, diesen neuen Weg zu gehen.“ Jenen Mut besaß er nämlich selbst, als er 1834 das Unternehmen gründete, und machte ihn zum festen Bestandteil der Betriebskultur. Aus diesen alten Wurzeln wachsen bis heute junge Triebe.

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