Neu starten: Wendepunkte im Leben


Ein lebensgefährlicher Unfall, der Anblick massiver Umweltzerstörung, ein drohender Verlust oder Burn-out: Die Menschen in diesem Artikel verbindet, dass sie etwas Tiefgreifendes erlebt haben; ein Ereignis oder eine Entwicklung von großer Tragweite. Und dass sie aus diesem Wendepunkt gestärkt hervorgegangen sind – mit mehr Zufriedenheit, Selbstbewusstsein, Sinn. Und nicht selten sogar mit Erfolg.

1. Oktober 2024

Reittrainer führt sein Pferd am Halfter

©Reitcoaching Baumann

Sie können sich ankündigen oder aus dem Nichts kommen. Sie können sich eher zaghaft bemerkbar machen oder mit voller Wucht. Sie können zu subtilen Veränderungen führen oder auch einen radikalen Wandel bewirken. Die Rede ist von Wendepunkten. Jeder Mensch hat sie schon einmal erlebt. Wessen Dasein verläuft schon geradlinig, ohne Kurven? Ohne Aufs und Abs?

Jürgen Maier kann für sich ganz klar sagen: seines nicht. Er weiß noch genau, wie er im Garten stand, als er von der folgenreichsten Zäsur seines Lebens erfuhr. Zwischen die Beine eine Flasche mit Nitro-Verdünner geklemmt. Der Tag war heiß und der Druck auf der Flasche so hoch, dass sie kurz zuvor geplatzt war. Dann kam seine Frau mit der Nachricht: Die Tochter sei mit lebensgefährlichen Kopfverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Der Schock ist überwältigend. Es kam Jürgen Maier vor, als würde sich vor ihm der Boden auftun und er darin versinken. Den hochgiftigen Nitro-Verdünner wäscht er sich erst Stunden später von der Haut.

©Reitcoaching Baumann

REITUNFALL: SICH ZURÜCKKÄMPFEN
Mentale Stärke als Schlüssel

Eine Hindernisstange im Sand des Reitplatzes. Ein Pferd, das beim Tritt darauf erschrickt und scheut. Dann liegt René Baumann am Boden. Dieser kurze Moment gibt seinem Leben eine Wendung. Als sein Pferd sich von ihm abwälzt, bleibt er schwerstverletzt zurück. René Baumann schreit – „aber nicht vor Schmerzen, sondern aus Frust“. Plötzlich steht für den damals 15-Jährigen alles infrage: das Reiten, die Karriere als Profisportler, überhaupt die Fähigkeit, je wieder seine Beine zu bewegen. Er kämpft sich ins Leben und in den Sattel zurück. Doch bald stellt er fest, dass neben dem Körper auch der Kopf genesen muss: Im Wettkampf blockiert Baumann. Der Schlüssel liegt für ihn darin, mentale Stärke zu entwickeln. Rückblickend ein zweiter Wendepunkt. Mit seinem Wissen hilft er zunächst sich selbst dabei, seine Ängste zu überwinden. Heute begleitet er auch andere Sportlerinnen und Sportler auf ihrem Weg zurück – und nach vorn.

→ Was seine Arbeit als Mentaltrainer erfüllend macht, erzählt diese Geschichte.

Erst Grauen, dann grenzenlose Erleichterung

Am nächsten Tag fährt er von Wardenburg ins Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zu seiner Nadine, der älteren der beiden Töchter. Sie hatte einen so schweren Schlag auf den Kopf erlitten, dass das Auge aus der Flucht gerissen worden war. Der Anblick: „Das Grausigste, das man erleben kann“, wie Maier selbst mit fast zehn Jahren Abstand sagt. „In diesem Moment erschien undenkbar, dass Nadine je wieder würde sehen können.“ Doch die damals 41-Jährige hat Glück: In mehreren Operationen können Auge und Sehvermögen gerettet werden. Die Erleichterung, die Jürgen Maier spürt, lässt sich kaum in Worte fassen. Und das Gefühl der unendlichen Dankbarkeit, das ihn überkommt.

In ihm wächst das Bedürfnis, etwas zurückzugeben – sozusagen ein Dankeschön an das Schicksal. Wie genau, dazu kommt ihm die passende Idee in einer Oldenburger Augenarztpraxis. Dorthin begleitet der Vater seine Tochter einmal pro Woche zur Anschlussbehandlung. Hier fällt sein Blick auf ein Plakat der Christoffel Blindenmission (CBM), die mithilfe von Spenden Kindern in finanziell prekären Lebenslagen ermöglicht, ihr Augenlicht zu behalten oder wiederzugewinnen. „Das war für mich ein Schlüsselmoment“, erzählt Jürgen Maier rückblickend. „Ich habe mich an meine Zeit als Band-Musiker in den 1970er-Jahren erinnert und dachte: Warum nicht mit Musik Spenden sammeln?“ Er wird sofort aktiv – erwirkt bei der Stadt Oldenburg eine Genehmigung als Straßenmusiker, besorgt sich das nötige Equipment und legt los. Mit Gesang, Gitarre und Hintergrund-Sound füllt sich seit 2018 die Spendenbox, deren Inhalt Maier an die CBM weiterreicht.

Entscheidend: die Sichtweise

Für ihn ergibt sich so ein nahezu logischer Zusammenhang: „Das Schlimme musste passieren, damit das Gute daraus hervorkommen konnte.“ Die Sichtweise von Jürgen Maier ist ein gutes Beispiel für das, was Expertinnen und Experten aus dem Bereich Psychologie bei der Verarbeitung von Schicksalsschlägen beobachten: Entscheidend ist, dass der Fokus nicht auf der Frage liegt, warum etwas geschehen ist, sondern wozu. Also auf der konstruktiven, sinnstiftenden Ebene. Wer dem Erlebten etwas Positives abgewinnen kann, überwindet es leichter. „Diejenigen, die besser zurechtkommen, haben in der Regel eine höhere Akzeptanz. Sie können früher annehmen, was geschehen ist und was das mit ihnen macht“, beschreibt es die Neurobiologin Dr. Angela Kurylas-Schneider (zum vollständigen Interview). So könnten sie schneller ins Handeln kommen, sich wieder eine Perspektive verschaffen.

©von Mende Marketing

KARRIEREWECHSEL: WISSEN, WAS WIRKLICH ZÄHLT
Vom Jetsetten zum Weltretten

Sie führte das Leben, von dem viele Mädchen träumen: Als gefragtes Fotomodell flog Viviane Michaelis um die Welt, lief über Laufstege in Mailand und Paris, zierte die Cover von Fashion-Magazinen. Doch der Glamour hatte Schattenseiten: „Er ist mit großem psychischen Druck verbunden – und einer verheerenden Umweltbilanz.“ Der Bruch erfolgte schließlich in Australien. Bei einem Tauchgang führte das sterbende Great Barrier Reef dem jungen Model vor Augen, dass es so nicht weitergehen konnte. Statt lange Strecken zu kurzen Shootings zu fliegen, begann Michaelis in Oldenburg ein Studium der Umweltwissenschaften, engagierte sich bei „Fridays for Future“ und in der Lokalpolitik. Heute setzt sie auf das Innere ihres Kopfes, nicht auf das Äußere. Von der einstigen Glitzerwelt vermisst sie wenig, denn: „Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich richtig frei.

→ Auf welche Erlebnisse Viviane Michaelis heute noch ungläubig zurückblickt, erfahren Sie hier.

Insgesamt scheint diese Resilienz, also die Fähigkeit des Menschen, Schicksalsschläge zu bewältigen, erstaunlich ausgeprägt. Das gilt selbst für traumatisierende Erlebnisse, wie George Bonanno festgestellt hat. Er ist Professor für Psychologie am Teachers College der Columbia University und leitet dort das „Labor für Verlust, Trauma und Emotionen“. Im Rahmen einer Studie befragte Bonanno über 2.700 Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt New York sechs Monate nach den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001. 65 Prozent berichteten in Zusammenhang mit dem Ereignis lediglich von einem oder auch gar keinen Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Selbst von den Betroffenen, die während des Anschlags in einem der Türme oder an Rettungsmaßnahmen beteiligt waren, gab die Hälfte an, nur wenige oder keine Symptome wie Depressionen oder Angstzustände zu haben.1

Neben Resilienz spiele laut Kurylas-Schneider noch ein zweiter Aspekt eine wesentliche Rolle beim Umgang mit Krisen: Selbstkenntnis. „Je besser Betroffene einordnen können, welche Prozesse in ihrem Kopf ablaufen und welche Phase sie gerade durchlaufen, und je mehr sie darüber wissen, wie sie veranlagt sind und was ihnen guttut, desto besser können sie mit der Situation umgehen“, so die Expertin. Menschen würden nicht selten im Laufe ihres Lebens Erfahrungen sammeln, wie sie in solchen Situationen reagieren. „Dieses Wissen rufen sie intuitiv ab und können darauf vertrauen. Denn sie haben gelernt, dass es für sie funktioniert.“

Everybody’s Darling bis zum Burn-out

Ebenjene Selbstkenntnis kam Martina Gercken* zugute. Ihr Wendepunkt war nicht plötzlich da, sondern verlief als eine sich stetig zuspitzende Entwicklung, an deren Ende 2022 ein Burn-out stand. Oder vielmehr: der Ausstieg aus dem Job, bevor der totale Zusammenbruch gedroht hätte. Denn die Signale des nahenden Burn-outs kannte Gercken schon – die zunehmende Müdigkeit, die Dünnhäutigkeit, das Gefühl des Ausgebranntseins. 2013 war sie schon einmal an diesem Punkt. Trotzdem machte sie zunächst weiter, bis sie eines Tages im Büro vor Erschöpfung anfing zu weinen. Aufgrund ihrer Vorerfahrung wusste sie, dass sie jetzt handeln musste. Es folgte die Rücksprache mit Arzt und Therapeutin, dann die Krankschreibung. „So konnte ich gerade noch eine Erschöpfungsdepression abwenden“, sagt Gercken.

 

„Ich wollte immer perfekt abliefern,
Everybody’s Darling sein.“

Martina Gercken, Stressmanagerin

 

Spricht sie heute über diese Zeit, wirkt die 43-Jährige sehr aufgeräumt. Klar habe das Arbeitsumfeld eine Rolle gespielt. Damals arbeitete sie als Projektmanagerin für ein Oldenburger Dienstleistungsunternehmen. Die Branche: schnelllebig. Das Arbeiten: unter großem Zeitdruck. Der Anspruch: hoch. Ebenso wie ihr eigener. „Ich wollte immer perfekt abliefern, Everybody’s Darling sein“, erzählt Gercken. Deswegen sagt sie auch, dass ihre Persönlichkeit einen Einfluss auf die Zuspitzung der Situation hatte. Die Schwierigkeit etwa, sich abzugrenzen, Nein zu sagen – beruflich wie privat. Und auch die Neigung, den Selbstwert vom Job abhängig zu machen.

Nichts mehr zu leisten, sei anfangs schwer auszuhalten gewesen, beschreibt es Martina Gercken. Aber dann sei ihr das Ausmaß ihrer Situation bewusst geworden: „Hier geht es um mich und meine Gesundheit. Ich konnte mir endlich selbst die Erlaubnis geben, dass ich mir die Zeit nehme, gesund zu werden.“ Sie blieb krankgeschrieben, ging auf Kur und traf dann eine fundamentale Entscheidung: nicht in den Job zurückzukehren. Genau die richtige, wie sich zeigen würde. Denn Martina Gercken hat viel nachgedacht – über sich, über ihr Leben, über das, was ihr wirklich etwas bedeutet. Und dabei eine wesentliche Erkenntnis gewonnen: „Was mir wirklich Freude macht, ist mit meinen Erfahrungen und meinem Wissen dafür zu sorgen, dass es anderen Menschen gut geht.“

©Rügenwalder Mühle

PRODUKTINNOVATION: DIE ZEICHEN DER ZEIT ERKENNEN
Alte Wurzeln, neue Wege

Es war ein historischer Schritt: 180 Jahre lang war die Rügenwalder Mühle für Fleischverarbeitung bekannt, als 2014 die ersten vegetarischen Produkte mit dem markanten Mühlenlogo auf den Markt kamen. „Wir sind dafür anfangs durchaus belächelt worden“, weiß Claudia Hauschild, Leiterin der Unternehmenskommunikation. Doch der Betrieb aus Bad Zwischenahn war der Zeit schlicht voraus. Aufmerksam hatte er beobachtet, dass Themen wie Tierwohl, Klima und Gesundheit zunehmend höher bewertet wurden. „Das haben wir als Chance interpretiert und mutig gehandelt“, erklärt Hauschild. Heute erzielt Rügenwalder Mühle gut 60 Prozent des Umsatzes mit vegetarischen und veganen Produkten. Doch auch Fleisch ist weiterhin im Angebot, wie Hauschild betont: „Wir holen alle an einen Tisch.“ Das Unternehmen bleibt also das alte – und hat sich dennoch neu erfunden.

→ Mehr zu den „alten Wurzeln und neuen Wegen“ von Rügenwalder lesen Sie hier.

Die Art des Verarbeitens ist individuell

Eine Routine hat ihr bei der Bewältigung des Burn-outs besonders geholfen und ist seitdem Teil ihres Alltags: Sie schreibt Tagebuch. Sogar ein eigenes Journal hat Martina Gercken entwickelt. Dass Schreiben hilft, Lebenskrisen zu verarbeiten, ist wissenschaftlich erwiesen. Erstmals dazu geforscht hat Psychologieprofessor James Pennebaker von der University of Texas in den 1980er-Jahren. Teilnehmende, die sogenanntes „expressives Schreiben“ betrieben, also über Gedanken und Gefühle zu traumatischen Erlebnissen, fühlten sich direkt nach dem Schreiben besser im Vergleich zur Kontrollgruppe. Auch Wochen später war der Effekt spürbar; wer zu emotionalen Themen schrieb, ging außerdem nur halb so oft zum Arzt.2

Wie Menschen mit einem tiefgreifenden Erlebnis umgehen, bleibt jedoch höchst individuell. Während sich die einen nach einem Verlust oder Trauma in Betriebsamkeit stürzen und die Nähe zu Familie und Freunden suchen, ziehen sich andere zurück, reduzieren ihr Alltagsleben und soziale Kontakte auf ein Minimum. Während die einen ihre Gefühle unterdrücken, lassen andere sie zu. Sogar aufrichtig zu lachen, kann beim Verarbeiten helfen, wie George Bonanno in seiner oben erwähnten Studie schreibt. Ein Richtig oder Falsch gibt es nicht. Der Wissenschaftler hält auch fest, dass für mentale Widerstandsfähigkeit insbesondere entscheidend sei, „einen bedeutungsvollen Sinn im Leben zu finden“3 (übersetzt von der Red.). Hier taucht sie wieder auf, wie bei Jürgen Maier und Martina Gercken: die Sinnhaftigkeit.

Eine versöhnliche Botschaft

Menschen geraten aus unterschiedlichen Gründen an Wendepunkte. Sie erleben den Einstieg ins Berufsleben, die Geburt ihres Kindes, die eigene Heirat. Aber auch private Schicksalsschläge. Aber selbst wem ein erschütterndes Ereignis widerfahren sei, für den gelte nach Meinung von Neurobiologin Kurylas-Schneider: „Die versöhnliche Botschaft lautet, dass es wirklich jede und jeder aus solchen Krisensituationen herausschaffen kann.“

 

„Wirklich jede und jeder kann es aus
Krisensituationen herausschaffen.“

Dr. Angela Kurylas-Schneider, Neurobiologin

 

Bei Jürgen Maier und Martina Gercken stimmt diese Annahme. Sie haben ihrem Wendepunkt einen Sinn verliehen. Er hat sie zum Nachdenken angeregt, auf Ideen gebracht, auf einen bestimmten Weg geführt. Maier sammelt trotz seiner mittlerweile 85 Jahre weiterhin Geld für die Blindenmission. Auf seine öffentlichkeitswirksamen Auftritte bei regionalen Radio- und TV-Sendungen hin kommen Spenden teils in Millionenhöhe zusammen. Martina Gercken ist nach Berlin gezogen und steht kurz davor, sich selbstständig zu machen. Als Stressmanagerin will sie andere dabei unterstützen, ein Burn-out zu überwinden oder – besser noch – ihn zu vermeiden. Die Zäsur in ihrem Leben hat beide zu den Menschen werden lassen, die sie heute sind.

 

* Name von der Redaktion geändert
1 Bonanno, G. A. (2004). Loss, trauma, and human resilience: Have we underestimated the human capacity to thrive after extremely adverse events? American Psychologist, 59, 20-28.
2 Pennebaker, J. W., & Chung, C. K. (in press). Expressive writing and its links to mental and physical health. In H. S. Friedman (Ed.), Oxford handbook of health psychology. New York, NY: Oxford University Press.
3 Bonanno, G. A. (2004), ebd.

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