Wendepunkt Reitunfall: sich ins Leben zurückkämpfen

Mentale Stärke als Schlüssel

15. November 2024

Mentaltrainer bei der Arbeit mit einem Pferd

©Reitcoaching Baumann

Als René Baumann mit 15 Jahren einen schweren Reitunfall hat, steht zunächst sein gesamtes Leben infrage – das Reiten, die Karriere als Profisportler, überhaupt die Fähigkeit, je wieder seine Beine bewegen zu können. Er kämpft sich ins Leben und in den Sattel zurück. Doch bald stellt er fest, dass neben dem Körper auch der Kopf genesen muss. Der Schlüssel: mentale Stärke entwickeln. Von seinem Weg profitiert mittlerweile nicht nur er selbst.


Eine Hindernisstange im Sand des Reitplatzes. Ein Pferd, das beim Tritt darauf erschrickt und scheut. Dann liegt René Baumann am Boden. Es ist dieser kurze Moment, der seinem Leben eine andere Wendung gibt. Als sein Pferd sich von ihm abwälzt, bleibt er mit einem zehnfachen Beckenbruch, einer gerissenen Blase und einem gequetschten Darm zurück. Etwas in seinem Inneren scheint die Dramatik sofort zu erfassen: René Baumann schreit – „aber nicht vor Schmerzen, sondern aus Frust“, wie er sagt. Frust von Plänen, die nicht mehr aufgehen. Von Träumen, die ins Unerreichbare rücken. Von diesem beängstigenden Szenario, das sich – noch vage – vor ihm auftut.

Plötzlich hilflos

Im Krankenhaus konkretisiert es sich: Noch in Reitmontur liegt René Baumann auf dem Behandlungstisch und reagiert mit einem leicht entnervten „Mach ich doch!“, als sein Vater ihn erneut bittet, die Beine zu bewegen. „Den Blick habe ich bis heute nicht vergessen“, erzählt er, „mein Vater dachte, ich würde nie wieder laufen können.“ Noch drastischer formuliert es ein Arzt auf der Intensivstation: Er könne froh sein, dass er noch lebe. Zahlreiche Operationen folgen und Wochen, in denen er sogar für kleinste körperliche Tätigkeiten auf Hilfe angewiesen ist. Nicht einfach für einen 15-Jährigen. Erst recht nicht für einen, der auf hohem Niveau Fußball spielt und eine Profi-Karriere als Reiter anstrebt.

Heute spricht René Baumann vom Tag des Unfalls als seinem zweiten Geburtstag. Der 4. November war das – die Zahlenkombination findet sich heute auf seinem Autokennzeichen. 17 Jahre später sitzt er in den Büroräumen seines Unternehmens in Friesoythe und ist sichtbar zufrieden. Er wirkt ausgeglichen, bei sich angekommen. Schritt für Schritt hat er sich sein Leben zurückerobert. Mehr noch: Er hat es um eine wesentliche Facette bereichert, privat wie beruflich – das Wissen um die Bedeutung und den Einsatz mentaler Stärke.

 

Ein zweiter Wendepunkt. Oder auch: der wesentliche.

Die Erkenntnis geht auf den Prozess seiner Genesung zurück. Körperlich erholt sich René Baumann gut. Schon ein knappes Jahr nach dem Reitunfall kann er wieder in den Sattel steigen und trainiert für die Teilnahme an Wettkämpfen. Doch etwas Wesentliches hat sich verändert. „Als es darum ging, Turniere zu reiten, habe ich gemerkt: Ich kann das nicht mehr so wie früher“, beschreibt es René Baumann. In einem Wettkampf wird die Veränderung besonders deutlich: Er muss einen Oxer, ein Hindernis für einen Hochweitsprung, überwinden – und bricht ab.

Zunächst versucht René Baumann, äußere Faktoren zu beeinflussen. Er lässt sein Pferd vom Osteopathen behandeln und den Sattler kommen. Er trägt eine Sicherheitsweste, um das Gefühl der Befangenheit zu mindern; spricht viel mit seiner Familie, die ihn auch schon in der Genesungsphase im Krankenhaus eng begleitet hat. Aber das Problem bleibt: Als Wettkampfreiter kann er seine Leistung nicht abrufen. „Da wurde mir klar, wie stark der Kopf ist, wie sehr er lenkt“, erzählt er. Rückblickend ist dieser Moment der Erkenntnis ein zweiter Wendepunkt in seinem Leben. Oder vielleicht sogar der wesentliche.

©Reitcoaching Baumann

Von nützlichen Lücken

Denn René Baumann weiß jetzt genau, wo er ansetzen muss. Der damals 18-Jährige beginnt zu recherchieren. Während das Thema Mentaltraining in anderen Sportarten längst angekommen ist, gilt das nicht für das Reiten. Eine ungünstige Ausgangslage, die für ihn zum Vorteil wird. Mit dem tiefgehenden Wissen, das sich René Baumann im Laufe der Zeit aneignet, hilft er erst sich selbst dabei, seine Ängste zu überwinden. Schon bald merkt er erste Fortschritte. Später profitieren auch seine Klientinnen und Klienten von seinem Know-how, das er auf das Reiten abgestimmt hat: 2019 macht er sich als Reitcoach und Mentaltrainer selbstständig.

©Reitcoaching Baumann

Seitdem begleitet er andere Sportlerinnen und Sportler dabei, mentale Stärke zu entwickeln und sie gezielt einzusetzen. Dabei geht es ihm insbesondere darum, „die körperliche und mentale Ebene bestmöglich miteinander zu verbinden“. Dabei bedeute Mentaltraining genau das: Training. Nur so gelinge eine dauerhafte Verhaltensänderung, um in kritischen Situationen das Gelernte anwenden zu können.

 

Einfühlsamer und glaubwürdiger durch das Erlebte

Kein leichter Weg, wie viele merken. Menschen einfühlsam zu begleiten, dabei helfen René Baumann seine Erlebnisse: „Ich bin zwei Jahre lang mit Angst geritten und kann nachfühlen, was meine Klientinnen und Klienten erzählen. Von mir bekommen sie kein ‚Stell dich nicht so an!‘ zu hören.“ Und er kann glaubhaft bezeugen, dass sich dieser Weg meistern lässt – er ist quasi selbst sein bestes Beispiel. „Ohne meinen Reitunfall könnte ich diese positive Haltung nicht so vermitteln.“

Wenn René Baumann dazu beitragen konnte, Ängste in den Griff zu bekommen und Potenziale voll auszuschöpfen, freut er sich sehr darüber. Wie neulich, als ein Springreiter nach einem Reitunfall bei einem internationalen Turnier wieder Höchstniveau erreichte. Mittlerweile ist seine Expertise über Landesgrenzen hinweg gefragt, von der Profisportlerin bis zum Pferdewirtschaftsmeister.

Der Wendepunkt: verzichtbar, aber wegweisend

„Ich bin stolz auf das, was ich geschafft habe – den Unfall körperlich und mental zu überwinden und daraus viel zu gewinnen“, stellt René Baumann fest, der längst wieder erfolgreich an Turnieren teilnimmt, sowohl national als auch international. „Auf das Erlebnis hätte ich gut verzichten können, es gehört aber zu mir dazu und lässt mich Respekt haben vor dem, was das Leben so mit sich bringen kann.“

Reiter überwindet Hochweitsprung-Hindernis Oxer

Eine stattliche Narbe erinnert ihn täglich daran. Und ein T-Shirt, das er bei seinem Unfall getragen hat: René Baumann bestand bei der Vorbereitung zu seiner ersten Operation vehement darauf, dass es ganz bleiben solle. Es zeigt das Logo vom größten deutschen Hallenreitturnier, dem Salut-Festival Aachen. Am Kleidungsstück hat er festgehalten, genauso wie an seinen Plänen. Und sie dank dem Schlüssel mentaler Stärke verwirklicht. René Baumann findet: „Ich habe ein tolles Leben! Trotz – oder vielleicht sogar wegen – des Unfalls.“ Der Tag seines zweiten Geburtstags.

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