Wendepunkt Karrierewechsel: wissen, was wirklich zählt

Vom Jetsetten zum Weltretten

21. November 2024

Ex-Model posiert im Grünen

©von Mende Marketing

Als Fotomodell um die Welt reisen: Spätestens mit dem Erfolg der TV-Show „Germany’s Next Topmodel“ wurde dies zum Traum vieler junger Mädchen. Für Viviane Michaelis ging er in Erfüllung. Nach ihrem Abitur lebte sie in den großen Modemetropolen, stand an exotischen Orten vor der Kamera, zierte die Cover von Fashion-Magazinen. Und doch war sie froh, als sie eines Tages aus dem Traum aufwachte.


Alles begann mit einer Nachricht auf Instagram. Eine Kölner Model-Agentur hatte im Sommer 2015 das Profil der Abiturientin Viviane Michaelis entdeckt und lud sie zu einem Casting ein. Ihre Gefühle waren zunächst gemischt: „Natürlich freut man sich, es ist ja auch ein Kompliment“, erinnert sich die inzwischen 27-Jährige zurück. Für ihre berufliche Zukunft hatte sie diesen Bereich aber nie in Betracht gezogen. Nach einigen Probeaufnahmen war aber schnell klar: Einen Versuch ist es wert!

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©The Hive Management

Michaelis verlagerte ihren Lebensmittelpunkt nach London. Zusammen mit weiteren Models wohnte sie dort in einer WG, die aber meist nur als Zwischenstation diente. In den kommenden Jahren sollte die junge Frau zeitweise in Mailand, Madrid, New York und gleich mehrfach in Paris zuhause sein. Sie genoss dabei die angenehmen Seiten des Berufs: das rasante Leben in großen Modemetropolen, die Shootings an traumhaft schönen Orten, den Kontakt zu interessanten Menschen aus einer kreativen Branche, den Rundumservice mit arrangierten Flügen und Hotels, eine stattliche Bezahlung – all das übte einen großen Reiz aus.

 

Glitzerbranche mit Schattenseiten

Was tatsächlich klingt wie ein erfüllter Traum, hatte aber auch Schattenseiten. „Es ging schnell um meine Hüfte, 90 Zentimeter Umfang waren das Maximum“, schildert sie die Vorstellungen der Branche. „Ich musste sehr auf meine Ernährung achten.“ Was auch überprüft wurde: So konnten aus heiterem Himmel Anrufe kommen, die eine sofortige Maßkontrolle oder aktuelle Bikinifotos verlangten. Andere Telefonate beorderten sie auf direktem Weg zum nächsten Flughafen, um an einem anderen Ort einen Job zu übernehmen. „All das bedeutet natürlich Druck“, so Michaelis.

Zudem warfen einige Gepflogenheiten der Branche durchaus Fragen auf: „Einmal wurde ich für drei Tage nach Chile geschickt – für ein einziges Shooting“, blickt sie auch heute noch ungläubig zurück. Und das fand nicht einmal vor einer speziellen Kulisse statt, sondern in einem beliebigen Gebäude. Anders war es zwar im Westen Australiens, als die Fotos unweit von Perth an den einzigartigen „Pink Lakes“ geschossen wurden. „Da habe ich mich aber auch gefragt: Gibt es nicht australische Models, die mir ähnlich sehen?“

Die kritischen Stimmen in Michaelis Kopf wurden immer mehr lauter. Zumal die Abiturientin in diesem Job intellektuell unterfordert war. Als Model durfte man sich zwar zur Mode äußern, inhaltlicher Input war aber nicht gewünscht. „Als Ausgleich habe ich abends im Hotel Dokus geschaut“, erzählt sie. Der ungeschönte Blick auf die Welt rückte auch die Modebranche in ein neues Licht: „Man muss sich schon fragen, was man da macht“, findet Michaelis. Ihr fehlte zunehmend der Sinn in einem System, das Kleidungsstücke bewirbt, deren Produktion und Nutzen fragwürdig sind. Die allgegenwärtige Unfreiheit, stets auf Ernährung, Gewicht und Aussehen achten zu müssen, verstärkten die Störgefühle.

Wendepunkt am Naturwunder

Letztlich waren es aber die ökologischen Dimensionen, die zu einem Bruch mit Job und Branche führten. Zum Jahresanfang 2018 arbeitete Michaelis für zwei Monate in Sydney, wurde dort unter anderem am weltberühmten Bondi Beach fotografiert. Ein privater Ausflug zum Great Barrier Reef sollte alles verändern. „Ich war schockiert, wie weit das Riff schon abgestorben ist“, schildert sie ihr Erlebnis bei einem Schnorchel-Ausflug. Andere Mitglieder der Tauchgruppe seien gleichgültig gewesen und hätten nur die verbliebene Schönheit bewundert. „Ich habe mich gefragt: Haben die etwas anderes gesehen? Ich konnte das nicht ignorieren.“

Und das galt nun auch für den Rest der Modewelt. Nur einen Monat nach ihrer Rückkehr nach London machte sie Nägel mit Köpfen: Sie teilte ihrer Agentur mit, nicht mehr länger als Model zur Verfügung zu stehen. „Das traf natürlich nicht auf Gegenliebe“, erinnert sie sich an unangenehme Gespräche. Doch ihr Entschluss stand fest. Noch im selben Jahr begann sie an der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg ein Studium der Umweltwissenschaften und traf sich in ihrer neuen Heimat mit der örtlichen Greenpeace-Gruppe. Später engagierte sie sich für die wachsende Fridays-for-Future-Bewegung, organisierte Demos mit über 10.000 Teilnehmenden. Als beratendes Mitglied war sie sogar Teil des städtischen Umweltausschusses. „Es war toll zu sehen, dass man einen Unterschied machen und vor Ort etwas verändern kann“, wusste sie ihre neuen Möglichkeiten zu schätzen.

Ankommen im Überschaubaren

Das Studium und das Engagement für die Umwelt boten ihr endlich das, was sie zuvor lange vermisst hatte: einen Sinn. Zudem schloss sich ein Kreis, als sie für ihren Master zu den Marinen Umweltwissenschaften wechselte. „Ich habe mal eine Dokumentation über Mikroplastik in den Weltmeeren gesehen“, denkt sie an einen jener Abende in anonymen Hotelzimmern zurück. „Das hat mich damals sehr bewegt.“ Heute hat sie mit diesem Thema direkt zu tun und kann in der Forschung selbst etwas bewirken. Vielleicht eines Tages auch für das Great Barrier Reef.

Etwas anderes ist aber womöglich noch wichtiger: Viviane Michaelis fühlte sich hier, im vergleichsweise beschaulichen Oldenburg, erstmals richtig frei. „Der ganze Druck war weg. Es spielte keine Rolle, wie ich aussah. Ich konnte sein, wie ich will, tragen, was ich will – und etwas für meinen Kopf tun.“

©Privat

Viviane Michaelis ist angekommen. Nach einem Auslandssemester in Göteborg wird sie nach Oldenburg zurückkehren. Hier schätzt sie die Überschaubarkeit und die Verbindlichkeit der Menschen. Gegenüber der Modebranche hegt sie jedoch keinen Groll. „Es gab ja auch einiges, das mir Spaß gemacht hat“, sieht sie die Dinge differenziert. Nach wie vor stehe sie gern vor einer Kamera, Reisen gehöre zu ihren liebsten Beschäftigungen. Nun aber kann sie all das nach eigenen – ökologisch und psychisch weniger belastenden – Vorstellungen tun. Denn Viviane Michaelis hat die Wende geschafft: vom Jetsetten zum Weltretten.

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